Grazie, Marie Eugenie delle

Marie Eugenie delle Grazie an Ernst Haeckel, o. O., 7. November 1896

7. November 1896.

Hochverehrter Herr Professor!

Auf die Gefahr hin, von Ihnen auch einmal statt einer Antwort den bewussten blauen Bogen mit der hektographirten Entschuldigung wegen Zeitmangels, etc. zu erhalten, mach’ ich mich schon heute an’s Schreiben. Aber Sie selbst haben mir durch Ihre wertvolle Sendung so berechtigten und lieben Anlass zum Schreiben gegeben, dass mir ein längeres Zurückhalten meines Dankes als Unart erschiene. Deshalb brauchen Sie ja diesen Brief noch lange nicht zu beantworten; nur lesen müssen Sie ihn, und, dies ist allerdings || eine Hauptbedingung – den blauen Bogen einstweilen noch in Jena behalten. Wo beginn’ ich also zuerst mit meinem Danke? Natürlich bei Ihnen selbst! Denn dieses Bild aus Ihrer Hand, nach dem ich mich stets gesehnt, und um das ich doch nie zu bitten gewagt, ist für mich erst die geistige Krone Ihrer ganzen Sendung. Herr Prof. Müllner und ich finden, es sei Ihr Bestes, und das so lang gewohnte Bild in meiner „Natürlichen Schöpfungsgeschichte“ hat seinen gefährlichsten Rivalen erhalten. Denn der verehrte Prof. Haeckel dort drin hat gelebt, eh’ ich ihn gekannt, – der Andre aber lebt so, wie ich ihn gesehen, und das ist immerhin ein prae! Ich hege nun, selbst wenn Gabriel Max nicht der Meister wäre, der er ist, auch für Ihr || Portrait die besten Hoffnungen; und wie Max Ihr Lächeln, Ihre Augen, und Ihren lichtfrohen Forscherblick, der für sich ein – „Challenger – “ ist, festhalten wird, kann ich mir schon heute vorstellen. – Sie werden vielleicht bereits erraten haben, was mir nach Ihrem Bilde die größte Freude bereitet: Die Radiolariencollection! In der That hätt’ ich mir selbst nichts Lieberes wünschen können, obwohl ich nicht weiß, womit ich in nächster Zeit für dies große Geschenk mich revanchiren könnte, und ob ich es überhaupt behalten darf? Sagen will ich nur, dass die Stunde, wo ich die Glastäfelchen unter dem Mikroskop sehen werde, eine der schönsten meines Lebens sein wird, das erste Wunder, an das ich glaube. Und dieses Wunder ist das Leben selbst, da, wo es noch spielt wie ein Kind || und doch schon träumt wie ein Gott! Für die Gedichte Fitgers dank’ ich herzlich. Zu ernstem Nachdenken hat mich das „Gedenkbuch“ Strauß’ angeregt. Ich wußte schon Manches von seiner unglücklichen Ehe. Ja, an so Etwas kann man langsam verkommen. Bin ich froh, dieses Cap der Stürme umsegelt zu haben! Und wenn es nur immer Stürme wären! … Aber wo das Ganze wirklich das wird, als was es die Philisterpoesie so gerne bezeichnet, ein „Hafen“, mit stillstehendem, dumpfigem Gewässer, den kalten Schüsseln nichtiger Göttermahlzeiten der Liebe und der Gewohnheit energieloser Ruhe oder kleinlichen Gezänkes ‒ brrr! Ich glaube, da könnt’ ich mein erstes Vater Unser beten! Armer Strauß …

Stolz und glücklich macht || mich Ihre sinnige Widmung in dem Buche. Ich will mich bemühen, Sie zu verdienen, mein verehrter Freund! Auch stimmt sie ganz reizend zu dem, was Sie über das Gebetbuch in Ihren Händen sagen. Wer hatte den Einfall, Sie oder Max? Wär’ Ihre Deutung nicht so poetisch und tief, ich hätte gelacht über den Zufall, der Ihnen ein Gebetbuch in die Hände spielt. So freu’ ich mich mit Ihnen des „Neuen Glaubens!“ –

Und nun zu den Korallen! Die meisten davon hab’ ich bis jetzt nur aus Abbildungen gekannt, stellen Sie Sich meine Christbaumfreude vor, als ich so viele thatsächlich in Händen hielt. Drei Tage wanderte ich damit von Zimmer zu Zimmer, und Prof. Müllner meinte lachend, ich trüge sie herum, wie eine || Katze ihre Jungen! Und die verzauberte Elfe darunter – Stylaster roseus! Wie gerade die in ihre Emballage passte! Aber Sie wissen wahrscheinlich nichts mehr davon! –

Mit intensivem, von Seite zu Seite wachsendem Interesse lasa ich Ihren Vortrag über „Zellseelen und Seelenzellen.“ Alles, was Sie so groß und eigenartig macht: Ihr, einer lebendig nacherschaffenden Phantasie gepaartes klares, energisches Denken, diese Prosa, die ganz Persönlichkeit ist, und doch wieder Schönheit, Maß und Licht, Ihre Schlüsse, deren Resultate sich immer so natürlich und von selbst ergeben, dass man die Wahrheit ordentlich zu greifen meint, wo so und so viele Andere sich noch in gelehrtem Blindekuhspiel mit ihr gefallen – || Alles, was ich je an Ihnen bewundert, hat mir dieser Vortrag wiederholt, und dabei hörte ich Sie in Wien sprechen.

Herrn Professor Müllner haben Sie durch Ihr Bild eine riesige Freude bereitet. Er bittet mich, Ihnen mitzutheilen, dass er in den nächsten Tagen einen Brief und sein Bild an Sie abgehen lassen wird. In kurzer Zeit hoff’ auch ich Ihnen Etwas schicken zu können: mein neues Werk, und einige Wochen später mein Bild letzter Aufnahme. Damit bleibt aber noch immer in Ihrer Schuld und in der des „neuen Glaubens – “ Ihre, in wandelloser Verehrung

treu ergebene

Eugenie delle Grazie.

a irrtüml.: lass

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
07.11.1896
Entstehungsort
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 11
ID
11