Gegenbaur, Carl

Carl Gegenbaur an Ernst Haeckel, Heidelberg, 22. November 1897

Heidelberg, 22 Nov 97.

Liebster Freund!

Ich wollte Dir eigentlich zu Deiner glücklichen Heimkehr gratuliren, als sich nach und nach zwei schlimme Nachrichten dazwischen schoben, welche mich zur aufrichtigsten Theilnahme stimmen mußten. Diese sei jetzt vor Allem anderen Dir ausgedrückt. Als ich Deinen lieben Bruder zum letztenmale im San Remo sah, war er in beneidenswerter Frische und stieg noch auf den Bergkämmen einher, die mir längst zu den unnahbaren Dingen gehörten. Durch Deinen Neffen Siegfried erfuhr ich freilich zum Semesterbeginn von der schweren Krankheit, so daß ich auf die letzte Nachricht schon vorbereitet war. Es bleibt aber immer traurig genug, weil es sich um eine Trennung handelt, und eine solche ist a der Gegensatz der Vereinigung, welche im Menschenleben wie überall in der Natur das Gute bedeutet. ||

Gänzlich unvermuthet kam mir die Kunde vom Ableben Deines Schwagers Reimer. So erwachsen Dir zur Rückkehr allseitige Trauerereigniße, und kämpfen gegen den Genuß angenehmer Erinnerungen der in fremden Landen und unter fremden Leuten jüngst verlebten Zeit. Aber das Mächtige hat Recht, und mächtig ist das Alte mit dem wir verbunden sind. Dagegen haben neue Eindrücke zu weichen.

Für Deine auf der Reise mir zugesendeten Karten habe vielen Dank. Besonders interessirte mich Tiflis, dessen Ansicht mir einen Wahn zerstörte, da ich von der Lage der Stadt mir ein günstigeres Bild gemacht hatte, im Gegensatze zu meinen Vorstellungen über den Kaukasus. Da paßt Alles viel besser zusammen! Mit der Landschaft bringe ich noch die Bewohner zusammen, Asiaten hier wie dort! Auch in den Bergen besteht eine Monotonie; das habe ich oft bei der Lecture auch über den Kaukasus empfunden. Nur Tiflis hatte mich irre gemacht, jetzt ists nicht mehr der Fall! ||

Was mich betrifft so geht Alles seinen alten Gang. Auch das Altwerden geht ruhig vor sich. Aber es summiren sich doch die Beschwerden allmählig, und man darf von den molesta Senectus b sprechen. Vielleicht kommt auch bald die Sorte „morosa“ für jetzt habe ich sie mir ferne gehalten. Nach langer Ferienzeit habe ich wieder mit „Vergnügen“ mein Semester begonnen, und kann sagen daß ich das Colleg noch immer nicht satt bekommen habe und, wie ein alter Gaul, noch gerne am Karren ziehe. Nur Prüfungen habe ich ganz gehörig dick!!

In meiner Familie geht es gleichfalls den alten Weg, nur über meine Frau muß ich klagen. Das Gehen wird ihr nicht blos sauer, sondern es ist auch von unangenehmen Folgen begleitet. So ist sie denn diesen Herbst gar nicht von hier weggekommen. Mit besten Wünschen für Dich wie für Deine Familie sende ich herzliche Grüße und bleibe

Stets Dein treuer

C. Gegenbaur

Frau und Tochter lassen gleichfalls ihre Theilnahme melden.

a von unten eingefügt: ist; b drei Buchstaben gestrichen.

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
22.11.1897
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 10169
ID
10169