Gegenbaur, Carl

Carl Gegenbaur an Ernst Haeckel, Heidelberg, 20. Mai 1894

Heidelberg, 20 Mai 94.

Liebster Freund!

Vor kurzem. erfuhr ich durch die Zeitung, daß die Linnean Society Dich mit ihrer Medaille bedacht hat, und verfehle nicht meiner Freude und Befriedigung darüber Ausdruck zu geben, indem ich Dich zu dieser neuen Auszeichnung beglückwünsche. Es ist darin für Dich ein schönes Zeichen der Anerkennung Deiner Verdienste zu sehen, für uns andere aber auch die sieghafte Entwickelung der Descendenzlehre, für die mir zwar bei allen Hemmungen, wie sie in vielerlei Formen auch heute noch bestehen, niemals bange war. So ruhst Du denn jetzt auf vielen Lorbeern, und daß es Dir dabei gut geht, || habe ich durch unseren Freund Kölliker erfahren, von dem ich die letzte Nachricht über Dich empfing. Es hat mir viel Vergnügen gemacht den alten Lehrer wieder einmal zu sehen, und mich alter Zeiten mit Erfreulichem und Unerfreulichem zu erinnern, denn auch das letztere verliert seine Bitterkeit, nicht blos durch die zeitliche Entfernung, sondern vielmehr durch die Erfahrung, daß es ja ebensogut wie das Andere ein nothwendiges Ingredienz unseres Lebens bildet. In dem Bewußtsein, daß die anderen Menschen auch nicht viel anders sind, habe ich mit dem alten Schlaumeier ein paar Stunden angenehm verplaudert. ||

Er war natürlich nicht auf dem Anatomencongresse, der mich ebensowenig interessirt, wie wohl Dich der zoologische. Amüsirt hat mich aber doch, jüngst zu hören, daß sie His nicht wieder in den Vorstand wählten, was wohl das Ergebniss der Verwachsungs-Dummheit war. Bei mir geht es ganz gut, ich sehe zwar allmählich das Alter mich umschleichen, aber das gehört ja auch dazu, und ist mir nicht unwillkommen. Die Osterferien hatte ich wieder über die Berge zu gehen beabsichtigt, aber eingezogene Nachrichten über das Wetter an den Seen brachten mich davon ab. So bot denn der herrliche deutsche Frühling wie er dieses Jahr waltete, reiche Entschädigung. Ich habe mit meiner Familie einige || Tage in Baden zugebracht, wo wir ganz in der Stille unsere silberne Hochzeit feierten. Dazu überraschte uns die Tochter aus Danzig, die noch einige Zeit zu Besuche blieb. In Stuttgart habe ich dann nochmals der Ruhe gepflogen, bis gegen das Ferienende, und jetzt ist auch das Pfingstnachspiel der Ferien zu Ende: Wie rasch die Zeit vergeht! Gut, wenn sie nicht ganz nutzlos vergangen ist. Damit lebe wohl, und empfange herzliche Grüße von Deinem alten

C. Gegenbaur

 

Letter metadata

Gattung
Verfasser
Empfänger
Datierung
20.05.1894
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 10144
ID
10144