Heidelberg, 27 Juli 93.
Liebster Freund!
Danke bestens für das Lebenszeichen welches wieder einmal ein Brief von Dir mir gebracht hat, aus dem die Meldung von Reiseplänen Dein Wohlbefinden mich erkennen läßt. Das ist doppelt erfreulich, denn es ist eine lange Zeit her, seit wir uns das letztemal sahen, und jünger sind wir beide inzwischen nicht geworden. Du hast freilich noch gute Wege vor Dir, während ich bereits tief im Alter stecke, und in vielen kleinen Dingen empfinde daß die besseren Tage vorüber sind. || Doch ist es immer noch zu tragen und solange ich noch Arbeitsfreude behalten darf, will ich nicht Klage erheben. Genieße ich doch auch einen bedeutenden Vorzug den das Alter bietet, jenen mit Gleichgültigkeit auf die äußeren Dinge zu sehen. Das ist ein schützender Mantel, wie jene Wolke in welcher Apoll den Odysseus seinen Feinden entzog. Auch die Zeitläufe stimmen gut zum Alter, denn wer ist heutzutage nicht laudator temporis acti, wenn er zwanzig Jahre zurück sich erinnert, oder auch nur zehn? Du siehst also,
daß man auch im Alter zufrieden sein kann. ǀ
Von meinen Ferien, die ich Ende nächster Woche beginne, werde ich den ersten Abschnitt wieder auf dem durch seine Ruhe mir liebgewonnenen Heiligenberge zubringen, eine Deinem kühnen Streben verächtliche Örtlichkeit. So sind wir beide doch, bei vieler Uebereinstimmung, sehr verschieden, und ich bin der genügsamere Theil! Der Blick ins Weite befriedigt mich mehr als der Ansturm auf Felsenhöhen, dem Du in Tirol Dich hingeben wirst, und das Verweilen an schattigem Plätzchen ziehe ich täglicher Wanderschaft vor. Deiner wiederholten freundlichen Einladung nach Jena kann ich nur wiederholt danken, denn es dürfte mir angemessener sein, das Bild von Jena unverändert in mir bestehen zu lassen. Die || retouchirten Dinge pflegen an Werth zu verlieren, und dieser Gefahr möchte ich auch jene Erinnerung nicht aussetzen.
Bei meiner Familie geht es gut; wenn auch meine Frau von manchen kleinen Leiden geplagt wird, so bin ich doch darüber nicht beunruhigt. Fritz kommt jetzt ordentlich in seiner Schule fort, und befreit mich dadurch von einer Sorge. Emma ist seit mehreren Wochen bei uns zum Besuche, der ihr wie uns durch eine hartnäckige Bronchitis verkümmert wurde. Doch wird sie bald wieder reisefähig sein. Hoffentlich finden sich die Deinen in gutem Wohlsein, wie ich das von Herzen wünsche, und damit zugleich beste Grüße verbinde. Führt Dich Dein Weg vielleicht auch zum Bodensee, so soll‘s mich freuen Dich wieder begrüßen zu können.
Wie immer Dein alter
CG.