Gegenbaur, Carl

Carl Gegenbaur an Ernst Haeckel, Heidelberg, 16. Dezember 1892

Heidelberg, 19 Dez. |1892.

Liebster Freund!

Mit bestem Danke sende ich Dir hiemit die Litteraturen zurück, welche Du zu leihen so freundlich warst. Das Lankester‘ sche Buch war aber ein anderes als ich gewünscht hatte. Meine Bitte war auf „Spolia maris“ gerichtet, die mit dem Uebersendeten schwerlich identisch sind. Oder ist es eine Art Kneipname? Deine Meinung bezüglich der Vergleich. Anatomie kann ich nicht theilen, denn ich sehe nicht ein wer ein „großes Werk“ über vergl. Anatomie gefördert haben sollte, wenn er nicht den Stoff durcharbeitet gebracht hätte, und das ist heute für den Einzelnen eine Unmöglichkeit geworden. Ich sehe was ich mit den Vertebraten zu thun habe. || Für fremde Brocken die Brühe bereiten ist meine Sache nicht. Ich arbeite auch nicht mit einer äußeren Absicht, sondern nur weil es mir Freude macht, und weil ich Befriedigung an der Lösung von Aufgaben finde. Was die anderen davon halten, ist mir ziemlich einerlei. Wollte ich mich danach richten, so hätte ich jede Thätigkeit längst eingestellt. Die Wirbellosen werden übrigens keineswegs von mir ignorirt, aber a nur soweit nicht, als sie zur Beleuchtung der Organisation der Vertebraten dienen. Ob das Buch fertig wird, kann ich bei meinem Alter natürlich nicht sagen, ich hoffe es aber, und bin auch nicht der Meinung, daß es ein Unglück wäre, wenn mir der Abschluss versagt sein sollte. Daß es ein Anderer zu Ende bringen kann, bin ich überzeugt. Klaatsch arbeitet so vollständig in meinem Sinne, daß ich die Aufgabe jeden Augenblick getrost in seine Hände legen kann. || Es ist übrigens für vergleichende Anatomie eine wenig günstige Periode. Wie wenig wird darin geleistet! Wer kümmert sich in des deutschen Reichs Hauptstadt um vergleichende Anatomie? Sollte man' s glauben, daß Hertwig die Maurer‘ sehe Haar-Arbeit gar nicht verstanden hat, wenn er sie überhaupt gelesen. Er sprach sich dagegen aus, und hält jene Zustände für Convergenz! Welche Gründe er hat, weiß ich freilich nicht. Der eigentliche Grund liegt aber sicher in der Beschränktheit des Horizontes, die, wie mich dünkt, immer aerger wird. So bleibt denn als Vertreter der vergl. Anat. dort – Herr Virchow!

Alle diese Dinge erheitern mich mehr als sie mich ärgern oder gar von der Arbeit abschrecken können. Zu solcher Erheiterung rechne ich auch, als ich jüngst Rabl unter den dankbaren Schülern Leuckart‘s fand. Diese Erfahrung war mir auch nützlich, denn sie hat mir manches bisher Unverständliche völlig klar gemacht. Das sind Betrachtungen an der Jahreswende, || vor der nur noch die Festtage liegen. Sie werden mir mit den sie umgebenden Ferien willkommen sein. Zu diesen empfange beste Wünsche und zum Schluße noch herzliche Grüße von Haus zu Haus.

Stets Dein aufrichtiger

CG.

a Davor gestr.: so.

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
19.12.1892
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 10136
ID
10136