Gegenbaur, Carl

Carl Gegenbaur an Ernst Haeckel, Heidelberg, 9. November 1892

Heidelberg, 9 Nov. 92.

Liebster Freund!

Für Deine letzten Mittheilungen sage ich Dir besten Dank und remittire zugleich die Briefe und Photographien. Beides interessirte mich. Die Briefe geben die Stimmung aller Welt – bis auf wenige Ausnahmen, und diese ohne ihre Schuld – um mit dem seligen Hase zu reden. Den alten Freund Leydig finde ich sehr verwittert, gut conservirt dagegen die Frau. Daß L. nicht zu belehren ist, habe ich erwartet. In einen solchen Kopf kommt keine neue Vorstellung mehr! Ich beklage das, füge mich aber ins Unabänderliche, und behalte bei Alledem den Anachoreten in gutem Andenken. Weiß ich doch, wie jene Fülle von Mißtrauen das Product der Verhältnisse ist, und nicht dem ursprünglichen Wesen entstammte.

Ich bin jetzt wieder „anatomisirt“ und || wünsche lebhaft, es länger zu bleiben als bisher, wo die Freude gewöhnlich ein knappes Jahr gedauert hat. So gehe ich denn, nachdem ich mich in den Ferien recht erfrischt hatte, mit Vergnügen an meine Lieblingsarbeit, und will sehen, wie weit ich diesen Winter damit komme. In meinen Jahren kann man nicht sagen, daß man etwas Begonnenes auch zu Ende bringt. Das hält mich aber nicht vom Versuche ab, und wenn ich mich auch nicht haste, so fördere ich doch bei stetiger Thätigkeit soviel, daß ich das Ende abzusehen vermag.

Diesen Winter wird, ich glaube zum erstenmale hier, über Descendenzlehre gelesen. Klaatsch hat es unternommen, und wird es auch, da er ein sehr guter Lehrer ist, zudem über die nöthigen Kenntniße verfügt, gut || durchführen. Das Auditorium besteht zunächst nur aus Medizinern. Ich habe an dem jungen Manne auch für meine Arbeiten einen guten Beistand und bin froh ihn hier zu haben. Maurer ist zwar gleichfalls sehr tüchtig, besitzt aber nicht die enorme Arbeitskraft des anderen. Daß Du seiner Haararbeit zustimmst, freut mich. Bis jetzt habe ich mehr abfällige Urtheile vernommen. Es ist fast unglaublich, wie viel Beschränktheit die Lehrstühle einnimmt! Was hast Du denn dazu gesagt, daß unser Freund Virchow am Moskauer Anthropologen-Congress sich über die Descendenzlehre aussprach und dazu aufforderte, endlich einmal zu prüfen, ob sie begründet sei, oder nicht. Die letzten 30 Jahre scheinen an ihm offenbar vorbeigegangen zu sein!!

Diesen Herbst war meine Tochter aus Eylau wieder bei uns und hat für 6 Wochen etwas Leben in unser so stilles Haus gebracht. In voriger Woche reiste sie wieder ab. Es geht ihr gut, nur die weite Reise ist ein || Klagepunkt. Deine Tochter ist besser daran. Nun noch eine Bitte. Wir bedürfen der Einsichtnahme von Ray Lankesters Spolia maris. Wenn Du mir auch sonst über Hemichordata (außer W Bateson) eine Notiz zukommen lassen kannst, wäre ich dankbar dafür. Die Angabe im neuesten Hefte der Proceedings R. S. kenne ich.

Lebe wohl, und sei mit den Deinigen herzlichst gegrüßt von

Deinem alten C. G.

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
09.11.1892
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 10135
ID
10135