Gegenbaur, Carl

Carl Gegenbaur an Ernst Haeckel, Heidelberg, 23. Oktober 1880

Heidelberg, 23. X. 80

Lieber Freund!

In Erwiderung Deines Briefes kann ich Dir mittheilen, daß ich mit Deiner Ansicht von der Besetzung des anatomischen Lehrstuhls vollkommen einverstanden bin. Dabei kann ich nicht umhin mein großes Bedauern auszusprechen, daß man hinter Deinem Rücken in der Denomination vorging. Es ist das, gelinde ausgedrückt, eine große Taktlosigkeit. Ich will nicht vom Verhalten der Zoologie zur Anatomie im allgemeinen sprechen, schon daraus ginge die Zweckmäßigkeit, auch den Zoologen gehört zu haben, hervor, ich will aber das ganz besondere Verhältniß Deiner Stellung in Jena, Deine Bedeutung für die Universität hervorheben, da daraus die Nothwendigkeit, in jener Frage keine Schritte ohne Deine Zustimmung zu thun, erhellt. Wenn man, wie Du, so oftmals Anerbietungen anderer Universitäten, und zwar immer zu glänzenden Stellungen ausschlug, so erwirbt man damit ein Recht, seine Lehrwirksamkeit derart geschützt zu sehen, daß das Einwirken heterogener || Doctrinen sie nicht störe. So innig verwandte Fächer wie Anatomie und Zoologie müssen auch auf dem Katheder harmoniren, und Differenzen von da her würden zwar nicht Dir oder Deiner Lehrwirksamkeit direct, um so sicherer aber der Universität schaden. a Dem Senate kommt b zu, das Gesammt-Interesse der Universität zu wahren und besonders über jenen Dingen zu wachen, an denen mehrere Facultäten zugleich interessirt sind. Ich wüßte aber kaum was das Interesse der philosophischen Facultät in ihrer naturwissenschaftlichen Section näher berühren könne, als die Besetzung der anatomischen Lehrstelle, ich wüßte nichts was jenes Interesse, von Seiten der medizinischen Facultät her, tiefer schädigen könne, als eine Berufung auf den anatomischen Lehrstuhl, die von vornherein nur eine Discordanz hervorrufen muß. Ich kann mir nur denken, daß der Senat Deine Zustimmung stillschweigend voraussetzte, oder daß man ihm eine solche vorzutäuschen versucht hatte. Mir ist noch recht gut erinnerlich, wie bei früheren, ähnlichen Anlässen im Senate stets das Intereße der Gesammtheit den einzelnen Facultäten gegenüber energische Wahrung fand. Ich denke daß die Appellation ad Senatum melius informatum Wirkung haben wird.||

Was die Personalfrage betrifft so halte ich entschieden Oskar Hertwig für den geeignetsten der Candidaten. Es wäre in jeder Hinsicht schmählich nach einem Geringeren zu greifen, und das sind doch die von der Facultät vorgeschlagenen, wenn ich von Aeby absehe, dessen Alter ihm in der Zahl der Leistungen einen Vorsprung giebt. Gegen Hertwig muß aber auch er zurücktreten, da dieser einen entschieden bedeutend weiteren geistigen Horizont besitzt. In das Detail der menschlichen Anatomie wird er sich bald gefunden habe, es ist ihm ja ohnehin nicht fremd. Hatte doch auch mein Nachfolger noch niemals Anatomie gelehrt gehabt, als er nach Jena berufen ward, und Hertwig ist ihm darin sogar voraus, daß er in Bonn schon Präparirübungen leitete. Auch ich habe c mit dem Lehren der menschlichen Anatomie in Jena begonnen.

Außer Hertwig halte ich aber auch Fürbringer für höchst geeignet. Seine Antecedentien kennst Du. Ich möchte nur hervorheben, daß er seit 10 Jahren in beständiger Continuität mit der Anatomie ist. In seiner wissenschaftlichen Befähigung stelle ich ihn mit Oskar Hertwig völlig gleich. Sein Vortrag ist gut disponirt, klar, nur fehlt ihm eine sonore Stimme, was jedoch nicht hinderte ihn als Lehrer hier sehr beliebt zu sehen. Auch in Amsterdam ist er in sehr ersprießlicher Thätigkeit. Ueber seine Arbeiten brauche ich mich Dir gegenüber nicht zu äußern. Du kennst selbst genau deren großen wissenschaftlichen || Werth. Ihre Minderzahl, den Hertwig‘schen Leistungen gegenüber, wird begreiflich, wenn man, wie ich, die anderweite Thätigkeit Fürbringers kennt, die ihm seine Beziehungen zu anatomischen auferlegte, Jena, Heidelberg und jetzt Amsterdam, wo er die Anstalt gänzlich umzugestalten hat. Ob er nach Jena gehen wird weiß ich freilich nicht sicher. Er hat in Amsterdam 5000 fl. Besoldung und etwa 1000 fl. etc. Honorare, die dort ganz gering sind. Dagegen ist seine Lehrtätigkeit in Amsterdam viel umfänglicher als sie in Jena sein würde. Die Vorlesungen besuchen ca. 80-90, den Präparirsaal gegen 100 Studirende. Bei dem Zustande der Anatomie an den anderen holländischen Universitäten ist es nicht anders möglich als daß Amsterdam eine große Attractions-Kraft ausüben muß. Schon jetzt wird die Lehrmethode Fürbringers in ihrem Uebergewichte wirksam. Es ist aber sehr wahrscheinlich daß er dennoch einer deutschen Universität den Vorrang gibt. Das Leben in Amsterdam ist sehr theuer und jene Gulden repräsentiren ebenso viel Mark! Auch für seine Familie bestehen dort manche Schwierigkeiten. All das läßt mich annehmen daß er einem Rufe folgen würde.

Ich würde also meinen, daß Fürbringer und Hertwig in Vorschlag zu kommen hätten. Ersterer, als bereits Ordinarius, den anderen vorangehend, im übrigen gleich bedeutend. Ob noch andere in Betracht zu kommen hätten und wer? ist eine schwerer zu beantwortende Frage. Merkel, der den Vorzug für sich hat, || wenigstens keiner der wissenschaftlichen Gestaltung der Anatomie feindlichen Richtung anzugehören, bietet einige Schwierigkeiten. Er sollte nämlich bei meinem Weggange in Vorschlag kommen. Ein von mir mit der bezüglichen Anfrage an ihn gerichteter Brief blieb lange Zeit unbeantwortet. Daher gelangte Merkel nicht zur Denomination. Endlich kam ein Brief Merkel‘s an, in welchem er erklärt, daß er nicht annehmen könne und, nachdem er von meiner Anfrage Gebrauch gemacht, von der Behörde eine Verbesserung seiner Stellung erhalten habe, die ihn zum Verbleiben in Rostock verpflichtete. Bei einer vor einigen Jahren stattgefundenen persönlichen Begegnung erfuhr ich nun, daß er vor jenem Briefe einen zusagenden an mich abgesendet hätte, der ohne Antwort geblieben sei. Deßhalb habe er jenen zweiten Brief geschrieben, resp. meine Anfrage officiell benützt. Jeder erster Brief Merkels ist mir nie zu Händen gekommen, muß also verloren gegangen sein. Die Situation ist also die: daß Merkel eine Anfrage wegen Jena bereits einmal abgelehnt hat. So liegt sie wenigstens in Rostock.

An Wiedersheim könnte auch gedacht werden, wenn nicht große Zweifel walteten ob er von Freiburg weg gehen würde. Er wird dort durch Vieles festgehalten, hat auch die Anatomie bereits d in seiner Hand, da Ecker wegen Kränklichkeit sich um wenig kümmern kann. Eine Berufung würde nach meiner Ansicht nur den Erfolg haben daß er in Freiburg Ordinarius würde. Unter die für Jena zu gewinnenden dürfte er nicht zu rechnen sein. ||

E. Rosenberg in Dorpat wäre eine ganz ausgezeichnete Lehrkraft. Er leidet aber an solcher Unentschlossenheit, daß Verhandlungen mit ihm zu keinem Ende kommen. Ich habe das erfahren als ich für Amsterdam Vorschläge zu machen hatte. Es ist mir sonst Niemand bekannt den ich mit gutem Gewissen Dir nennen könnte. Es gibt freilich noch viele und darunter auch Vereinzelte welche Empfehlung verdienen zum Beispiel Born in Breslau (Prosector) aber ich denke mir daß man solche die zunächst nur Hoffnungen erwecken, nicht mit jenen die sie bereits realisirt haben zusammenwerfen soll, und daß, zumal wenn man ausgezeichneter Persönlichkeiten sicher ist, die geringere Qualität gar nicht in Betracht zu kommen braucht. Nur wenn etwa drei vorgeschlagen werden sollen würde ich Born anrathen. Er ist von wissenschaftlichem Streben erfüllt und, wie ich ihn kenne, ein klarer Kopf. Seine Arbeiten sind Dir bekannt.

Ich will wünschen und hoffen daß es gelingt, die Besetzung der Stelle in einer der Jenenser Universität zum Vortheil gereichenden Weise auszuführen, und daß bei der Wahl die wissenschaftliche Bedeutung des Mannes den Ausschlag gibt. Diese bestimmt sich aber aus dem Umfange nicht nur, sondern auch aus der Vertiefung des Wissens, und aus dem, was er mit beiden für den Fortschritt der Anatomie zu leisten vermag.

Je größer der Zuwachs ist, den die Anatomie an ihrer Peripherie empfängt, je mehr das, zum größten Theile nur Rohmaterial darstellende || Detail an Masse zunimmt, desto mehr bedarf es zur Beherrschung derselben eines höheren Standpunktes, wie ihn nur die vergleichende Anatomie zu bieten vermag. Danach strebten ja alle bedeutenden Anatomen e wie Tiedemann, Meckel, Johannes Mueller und viele Andere. Wenn es f unter dem jüngeren Geschlechte solche giebt, welche, in geistiger Beschränktheit befangen, die Nothwendigkeit jener Beziehung leugnen, so zeugt das eben nur für den niederen Standpunkt derselben. Wer drunten im Thale steht, sieht nicht so weit, als der eine Höhe erklomm. Es ist auch nicht leicht emporzusteigen. Was wissen aber die von dem höheren Standpunkte, die niemals einen Versuch gemacht, ihn zu gewinnen? Es ist das Urtheil der Blinden über die Farben! Wenn es klar ist, daß jener wissenschaftliche Standpunkt im Zusammenhang mit Lehrbegabung den Ausschlag zu geben hat, so kann ich auch nicht daran zweifeln, daß die Vertreter der Intereßen der Universität nur in jenem Sinne ihre Wahl treffen werden. Das war ja von jeher Jenas Bedeutung daß es aufstrebende Talente die ihrer Wissenschaft neue Wege bahnten zu den Seinigen machte. Diese altbewährte Tradition wird hoffentlich dießmal nicht verlassen werden und die Universität kann Dir es nur zu Danke wissen wenn sie vor einem Mißgriffe bewahrt bleibt, die Kurzsichtigkeit und wohl auch Absichten, die ich hier nicht bezeichnen mag, sie begehen lassen wollten.

Damit habe ich Dir meine Herzensmeinung offen ausgesprochen. Ich habe nicht blos das Interesse an Jena wo ich den besten Theil meines Lebens das Intereße der Hochschule und der Wissenschaft || zu fördern bestrebt war, sondern ich habe auch die Pflicht für meine Wissenschaft Dir jene Meinung ausführlich zu äußern und zu begründen. Wenn das etwa zu lang ausfiel so entschuldige es mit eben jener Pflicht und eben jenem Intereße.

Lebe wohl und seit tausendmal gegrüßt von

Deinem aufrichtigen

C. Gegenbaur

a Gestr. Textpassage; b gestr. dort; c folgt gestr. ja; d über dem Text eingef; e folgt gestr. Anatome; f über dem Text eingef.

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
23.10.1880
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 10047
ID
10047