Gegenbaur, Carl

Carl Gegenbaur an Ernst Haeckel, Heidelberg, 14. August 1877

Heidelberg, 14. Aug. | 77

Liebster Freund!

Schon vor 4 Wochen hatte ich einmal einen Brief an Dich geschrieben der ohne Absicht ablagerte, und veraltet war als ich ihn fand. Daher dieser neue, der mir bestätigt daß es Dir gut geht. Ich freue mich recht sehr Dich in München zu treffen, und die Nachricht, daß Du hingingest, war eine Hauptgrund für mich zum zweiten Mal – nach 16 Jahren! – eine solche Versammlung zu besuchen. Bischoff hatte schon im Mai an mich geschrieben einen Vortrag zu übernehmen, ich lehnte es ab. Dafür ist wohl College Waldeyer eingetreten.

Bei mir geht es gut. Meine Frau die zum Beginn des Semesters sehr leidend war, ja sogar einmal recht krank, ist nach einem mehrwöchigen Aufenthalte im Schwarzwald recht gekräftigt zurückgekehrt, was mich sehr beruhigt. Auch meinen Kindern geht es gedeihlich.

Mein Grundriss wird nun bald gedruckt sein! Es war doch eine rechte Arbeit die man der Sache sicherlich ansehen wird. In der Molluskenfrage habe ich ziemlich viel gearbeitet, und werde in einer Besprechung des Ihering’schen Buches meine Ansichten darlegen. || Sie weichen in der Hauptsache ganz von Ihering ab. Chiton lasse ich bei den Mollusken. Es ist eine gute Abtheilung (Placophoren) der foraminifera und übrige Mollusken (als Conchifera) gegenüberstelle. Die Chitonschale ist ein Vorläufer der einheitlichen Conchiferenschale. Es ist nicht denkbar daß die Schale als falsche phylogenetische entstand. Als mehrtheiliges Gebilde ist es denkbar, denn als solches ist ein Nutzen möglich, nicht aber als Rudiment, wie ja doch der Anfang der Schalenbildung gewesen sein muß. Das wäre mir ganz unverständlich. Die Platten der Chitonschale müssen aber ebenfalls Anfänge gehabt haben. Und da wird wahrscheinlich daß es nicht andere als weitergezüchtete Stachelbildungen sind, wie sie sonst noch bei Chiton vorkommen. Also: stachelbesetzter Rücken als primärer Zustand. a Ausbildung einzelner Stacheln oder ähnlicher Gebilde, Mitbewerbung! Sieg einiger (8) über die anderen! Chiton. Hier nun kommt eine Lücke, dafür Hypothese: Derselbe Prozeß wie unten d. h. Kampf der 8 Platten unter einander. Ausbildung einer, Rückbildung der anderen! Sieg der Schale Conchifer! Die Schalendrüse ist ein Rest des primitivsten Zustandes, in dem die Schale durch einen Kamm von stachelartige Extinctebildung vertreten war. Verknüpfung mit Neomenia und Chatoderma, die ich übrigens den Würmern zuweise. Das Alles ist nun etwas typisch behandelt, allein es läßt || sich auch academischer darstellen. Hast Du vielleicht ein paar gut conservirte kleine gemeine Chitonen, so wäre ich dankbar dafür um Gelegenheit zu haben einige bezüglich der Textur der Stachelfascikel mir anzusehen.

Recht habe ich mich über Sempers Rhopalodien gefreut. Der Kerl hat also das Körperwerk wo die cölenxxx auslaufen sollten, gar nicht untersucht gehabt. Übertrumpft hat Semper sich mit seinem Schüler Ludwig, der ihn jetzt schon mehrfach abgeführt hat. Cölentarismus der Crinoiden! Aber die Arbeiten Ludwigs sind vortrefflich. Sie gehören zu den wenigen die einen sogleich orientiren und von Schritt zu Schritt sicher weiterführen.

Nun was Anderes. Vor längerer Zeit erhielt ich eine Berufung nach Amsterdam, wo man große Rosinen im Kopfe hat. Ich hatte b nach der ersten Anfrage obschon man die glänzendsten Anerbietungen machte, abgelehnt. Werde aber nun bestürmt. Will daher mir wenigstens die Sache einmal ansehen, obschon ich kaum glaube daß es mir paßt. Die Leute waren überaus liebenswürdig gegen mich, und ich glaube kaum daß in Deutschland günstigere Offerten gemacht werden können. So werde ich denn zu Ende des Monats dorthin reisen. Hier hoffe ich die Sache, wenn es angeht, zoologisch zu verwerten, und mir vor P. Ruhe verschaffen. Im übrigen befinde ich mich in meinem Häuschen, rechts und links den Blick in den schönen grünen Bergwald, ausgezeichnet || wohl, und kann mir kaum denken wie man in einer Alluviallandschaft existiren kann. Aber hinreisen muß ich um Alles in der Nähe zu besehen. Aufs Geld scheint Ihnen gar nichts anzukommen, und in diesem Punkt stimme ich völlig mit den guten Holländern überein. Nur mit anderer Richtung! Also vedremmo!

Es ist schade, dass Du nur so wenig in M. bleiben willst, sodass wir wenig voneinander haben werden. Auch die flüchtige Berührung Heidelberg, die Du für die Rückreise in Aussicht stellt, ist nicht schön. Doch ich werde bescheiden sein, und will mich immerhin freuen Dich zu sehen. Schön daß Du auch Deine liebe Frau mitbringst.

Also auf Wiedersehen! Und nun noch beste Grüße von Haus zu Haus!

Stets Dein

C G.

a Davor: gestr. Jürt; b Davor gestr.: nicht lesbares Wort.

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
14.08.1877
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 10023
ID
10023