Gegenbaur, Carl

Carl Gegenbaur an Ernst Haeckel, Heidelberg, 10. November 1875

Heidelberg, 10. Nov. 75.

Liebster Freund!

Besten Dank für die eben erhaltene Sendung, deren zum Verschicken bestimmten Bestand ich besorgen werde. Auf Deine Abfertigung G’s u. H’s bin ich sehr gespannt. Bei uns hat sich das Semester besser angelassen als es schien, und das Deficit kommt nun wirklich den Juristen zum Schaden. Neulich hat Kühne sein neues Institut eröffnet, wie ich höre, mit einem Vortrag über Naturforschung, wo er gegen Dich, implicite wohl auch gegen mich losgezogen sein soll. Proficiat! Ein wichtiges Ereigniß ist, daß Dein Specialcollege diesen Winter nicht liest. Er hat die angekündigten und dann nochmals bezüglich des Beginns hinausgeschobenen Vorlesungen an Koßmann abgegeben, nachdem er von einem schweren Augenleiden befallen worden war. Auch höre ich daß || er davon spricht, wenn er wieder genese dem Ministerium ein Ultimatum zu stellen, bezüglich des Baus eines zoolog. Institutes. Da aber ein Institut wie es P. will, kaum je hier gebaut werden dürfte, wenigstens nicht in den nächsten 10 Jahren, so wird die Geschichte wohl mit dem Abgang P‘s endigen. Was ich daran für Gedanken knüpfe, weißt Du. Jedenfalls wird von vielen Seiten gegen Dich agitirt werden. Doch hoffe ich das beste. Vor allem aber behalte diese Mittheilung ganz für Dich.

Koßmann hat bei den Studenten keinen Credit, so daß selbe schon Fürbringer refferirten ihnen über Zoologie zu lesen. Vorigen Sommer las K. über Descendenztheorie, mit 36 Zuhörern beginnend, und mit 3 schließend! In einem mikroskop. Curse hat er sich geradezu prostituirt! Das sind die großmäuligen Helden des Tages, welche die Berliner Pickwickier ans rothe Meer schicken! Semper wird nächstens wieder || einen Anfall gegen mich unternehmen. Er hat jetzt nämlich entdeckt, daß das Rückenmark das primitive Nervensystem sei, das ob. Schlundganglion etwas secundäres; denn: bei Chätogaster bildet sich in den Sprößlingen des ob. G. vom Rückenmarke her! Ergo! Alles stimmt zur Heiterkeit.

Doch mir geht es gut. Ich arbeite an der Anatomie, soweit der im Praeparirsaal verbrachte Tag noch Arbeitslicht übrig läßt, und freue mich zugleich diesen Winter zum letztenmale in schrecklichen Localitäten tractiren zu müssen. Meine Familie ist wohl, und Dein kleiner Pathe gedeiht kräftig.

Beste Grüße von Haus zu Haus

Stets Dein treuer

CG.

Witterungswechsel und Temperaturumschlag ist uns auch hier reichlich geboten. Gestern früh 71° heute 410°.

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
10.11.1875
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 10005
ID
10005