Haeckel, Ernst

Johann Carl Friedrich Zöllner an Ernst Haeckel, Jena, 30. Januar 1873

Jena 30 Januar 73

Hochverehrter Herr College!

Zunächst meinen freundlichsten Dank für Ihre inhaltreichen, gütigst übersandten Schriften, eine allzu reiche Gegengabe gegen meine Morphologie, durch deren Übersendung ich Ihnen vorzugsweise meine aufrichtige Bewunderung und meine wissenschaftliche Sympathie ausdrücken wollte.

Mit Ihrem freundlichen Schreiben sind Sie mir zuvorgekommen, da es längst meine Absicht war, Ihnen zu sagen, mit welchem lebhaften und ungewöhnlichen Interesse ich Ihr wundervolles Buch „über die Natur der Cometen“ gelesen habe. Ich bekam dasselbe erst kurz vor Weihnachten in die Hand; es fesselte mich aber so, daß ich es sofort in ein paar aufeinander folgenden Abenden durchlas. ||

Sie werden sich inzwischen durch einige Blicke in meine Morphologie (besonders Buch I und II, sowie V und VI) vielleicht überzeugt haben, wie sehr wir beide in den wichtigsten Grundanschauungen über den Zustand und die Aufgaben der gegenwärtigen Naturwissenschaft harmoniren, und wie sehr wir in ihren meisten Vertretern die intellektuellen und moralischen Eigenschaften vermissen, die jene Aufgaben erfordern. Vieles, sehr Vieles in Ihrem Buche ist mir ganz aus der Seele geschrieben; und ich kann Ihnen kaum sagen, mit welcher Befriedigung und Genugthuung mich einerseits die Klarheit und Schärfe erfüllte, mit der Sie die höchsten Probleme unsrer Wissenschaft behandeln, andrerseits der moralische Muth und der tiefe sittliche Ernst, mit dem Sie die Sünden ihrer Vertreter geißeln. Vieles, was ich selbst in sehr unvollkommener Form gedacht und erstrebt, haben Sie in der vollkommensten Form vorzüglich ausgeführt. || Wenn ich Eines in Ihrer persönlichen Polemik bedaure, so ist es, daß gerade Helmholtz vorzugsweise davon getroffen wird, den ich trotz Allem immer noch für einen a unserer bedeutendsten und ehrenwertesten Forscher halte; Beweis dafür ist schon, daß er es in der engen Camera obscura, die sich heutzutage „Physiologie“ nennt, nicht ausgehalten hat und zur Physik übergegangen ist. Unter den wissenschaftlichen Physiologen der Gegenwart, deren enger Gesichtskreis ihrem hohlen Dünkel entspricht, war H. immer noch ein Phänomen; und ich bedaure, daß nicht Andere, die die Strafe noch viel mehr verdienen, gestraft worden sind: beispielsweise Ihr Leipziger College Ludwig, an dem sich das geringschätzige Urtheil, das schon vor 20 Jahren unser großer, hoch über dieser Physiologie stehender Johannes Müller fällte, nur zu sehr bewährt hat; welche Phraseologie! und welche Einbildung. || Glücklicherweise stehen die wissenschaftlichen Leistungen der „großen und prachtvollen Laboratorien“ immer in umgekehrtemb c Verhältnisse zu dem großen Aufwande und der glänzenden Ausstattung, die sie erfordern; und so werden denn auch die „großen und prachtvollen Laboratorien“, welche in Leipzig für die biologischen Fächer errichtet werden, nicht verfehlen, ihre steril machende und negative Wirkung auf die Arbeiten ihrer „exacten“ Directoren zu äußern.

Zufällig kenne ich Ihre Leipziger Biologen seit langer Zeit persönlich, und kann mir demnach denken, mit welchem stolzen Bedauern diese „exacten Forscher“ auf Ihre speculativen Verirrungen herab sehen werden: der gelehrte Leuckart, dessen Kenntnisse ebenso reich als sein Verständniß der Zoologie oberflächlich ist, der trockne geistlose Schenk, der das Verdienst hat, mich von der Botanik abgeschreckt zu haben; und der handwerksmäßige His, dessen Eifer schon als Student mit seiner Beschränktheit gleichen Schritt hielt! ||

II

Hoffentlich werden Sie im nächsten Sommer uns einmal hier in Jena aufsuchen. Sie finden hier einen kleinen Kreis von warmen Verehrern, die alle Ihr Cometen-Buch mit dem lebhaftesten Interesse studirt haben. Letzteres ist in unseren alle 14 Tage stattfindenden Zusammenkünften jetzt regelmäßig Gegenstand der Erörterung und Bewunderung.

Der kleine Cirkel von gleichgesinnten Freunden besteht aus dem Anatomen Gegenbaur (einem tief philosophischen Kopfe), dem Botaniker Strasburger, dem Physiker Abbe und mir. (Der Physiologe Preyer gehört nicht zu unserer Harmonie!) Wie schade, daß Sie nicht auch d hier sind! Jena ist mit seinen einfachen und in vielen Beziehungen höchst primitiven Verhältnissen, mit seinem erquickenden Landleben, seiner herrlichen Natur, seiner stillen Muße, ein ausgezeichneter Ort für philosophierende Naturforscher! ||

Überhaupt bin ich ein warmer Freund der jetzt so viel angefochtenen „kleinen Universitäten“ und glaube, daß sie viel weniger den verderblichen Einflüssen der Phrase und der wissenschaftlichen Eitelkeit und Renommisterei ausgesetzt sind, als die großen Universitäten mit ihren Akademien, Versammlungen und tausend anderen verführerischen Einflüssen!

Beifolgend sende ich Ihnen ein Stückchen meiner eben erschienenen Monographie der Kalkschwämme, einer harten und mühsamen Arbeit, an der ich 5 Jahre gesessen habe. Leider kann ich Ihnen das ganze Buch nicht schicken, da die mir bewilligten Exemplare nicht ausreichen. Sie werden aber aus den beiden Schlußkapiteln sehen, worum es sich handelt. Unter meinen Fachgenossen werde ich damit freilich wenig Glück machen. ||

In der Zoologie ist das „Causalitäts-Bedürfniß“ unbekannt, und schon die Frage nach den Causalefficienten ist eine „unerlaubte Speculation“. Da nun mein Spongien-Buch diese Frage nicht allein aufwirft, sondern auch zu beantworten versucht, so werde ich (abgesehen von meinen Versündigungen gegen die dogmatische Systematik) wieder einmal für „verrückt“ erklärt werden, wie nach dem Erscheinen meiner Morphologie! Sie sind ja mein Leidensgefährte, und wissen was das heißt!

An unseren Verleger Engelmann habe ich so eben geschrieben und ihn gebeten, Ihnen ein Exemplar meiner „Biologischen Studien“ zu senden, in welchen Sie vielleicht mehrere Sie interessierende Mittheilungen finden, so namentlich über die Moneren und die Urzeugung; ferner eine Rede über die Aufgaben der Zoologie. ||

Nun, hochverehrter Herr College, nochmals meinen besten Dank für Ihre freundlichen Zusendungen, noch mehr aber für die viele Erquickung und Belehrung, die ich aus Ihrem Cometen-Buche geschöpft habe! Letzteren wünsche ich von Herzen den weitesten Wirkungskreis und die eindringlichste Beherzigung von Seiten der aufwachsenden Naturforscher-Generation, die hoffentlich die Philosophie mit anderen Augen betrachten wird, als die gegenwärtige!

Indem ich Ihnen in Gedanken herzlichst die Hand drücke, bleibe ich mit vorzüglicher Verehrung

Ihr ergebenster

Ernst Haeckel

P. S. Beifolgend meine Photographie mit der Bitte um die Ihrige!

a gestr.: und; b korr. aus: umgekehrter; c gestr.: Ausstattung; d gestr.: dazu

 

Letter metadata

Verfasser
Datierung
30.01.1873
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
Unbekannt
ID
47481