Carl Gottlob Haeckel an Christian Weiß, Berlin, 24. Mai 1852
Berlin 24 Mai 52.
Mein lieber Freund!
Von Ihrem Bruder habe ich erfahren, daß in diesen Tagen (den 26sten) Ihr Geburtstag ist. Da ist es denn doch wohl in der Ordnung, dem alten Freunde ein Zeichen des Andenkens an ihn zu geben. Dieses Andenken erhält sich zwar von selbst durch die innern Meditationen, in welche auch die Ansichten der Freunde verwebt sind und fortdauernd mitwirken. Allein auch das äußere Zeichen thut dem Freunde wohl und ist ja eigentlich nur eine äußere Fortsetzung des innern Gesprächs, was man, auch äußerlich getrennt, mit dem Freunde führt. An Stoff hiezu aber fehlt es wahrlich nicht und ist derselbe in der gegenwärtigen Zeit im Ueberfluß vorhanden. Wir leben in einem großen Umschwung der Ansichten, Meinungen und Gefühle, religiös und politisch. Der Geist der Menschheit arbeitet nach dem Willen Gottes rastlos fort, es gährt in dem gebildeten Europa inwendig und die äußern Verhältniße sollen sich neu gestalten. Die Arbeiten des menschlichen Geistes vom 18. Jahrhundert wirken nacha und das 19te soll ihnen seine Ergänzung und Vollendung geben.
Zuförderst in religiöser Hinsicht. Hier handelt es sich um die Wiederbelebung des wahren Christenthums im Kampfe mit dem Indifferentismus und der Theologie. Der Indifferentismus bei einer großen Anzahl der Gebildeten läßt sich nicht wegläugnen. Manche schieben ihn auf den Protestantismus und suchen ihr Heil in den thätigenb Vorstellungen und Dogmen Luthers, manchen genügt auch dieses nicht und [sie] glauben ihr Heil im Katholicismus zu finden. Das unsre Kultur der letzten Hälfte des 18. Jahrhunderts, die auch jetzt noch durch eine große Anzahl Gebildeter repräsentirt wird, eine große Gemüthsleere zurükgelaßen hat, läßt sich nicht läugnen. Sie wird vorzugsweise von den weiblichen Gemüthern gefühlt,c aber auch Männer von Phantasie und Neigung zum Mysticismus fühlen sich dadurch in die pietistische Richtung hineingetrieben. Sie wollen diese Leere durch Dogmen ausfüllen. Der Katholicismus lauscht und ist wachsam und sendet seine Jünger, die Jesuiten, aus, um die Leidenden zu heilen, er hält den Zeitpunkt für nahe herbeigekommen, um die evangelische Kirche zu verdrängen, wir hören vielleicht nächstens die Jesuiten hier in Berlin predigen. Sie gehen in gewohnter Art weltklug zu Werke, thun als ob sie gar nichts gegen den Protestantismus hätten und dieser nur einer Correktur bedürfe. Hat diese Spinne die Fliegen erst ins in ihr Netz gelockt, so wird sie die Opfer schon umgarnen und zuletzt auffreßen. Die große Apathie, an der wir jetzt religiös und politisch leiden, einerseits,d die große Verblendung eines anderen Theils erfordert starke Reitzmittel und Begießungen, es scheint fast, als müße es erst ganz schlimm werden, ehe es beßer wird. Vielleicht werden die Jesuitenschulen in Preußen, die russische Knute und der österreichische Korporalstock ine ganz Deutschland das Volk aus seiner Apathie herausreißen und zur || Besinnung bringen. An einen Untergang der europäischen Kultur glaube ich nicht, aber sie bedarf einer Radikalkur, so wie damals der Katholicismus durch den Protestantismus. Dazu muß noch materielles Elend wirken, was auch nicht ausbleiben wird und so wird sich wohl endlich die europäische Menschheit wieder verjüngen. Ich kenne doch kein Volk auf dieser Erde, was geistig und gemüthlich tiefer wäre als das deutsche, es ist für die Kultur der Menschheit auf der Erde unentbehrlich und so glaube ich auch nicht an seinen Untergang. Auch glaube ich nicht, daß es seinen Beruf erfüllen kann wenn es politisch geknechtet ist, an Preußen ist der Ruf ergangen, die deutsche geistige Individualität nach außen zu schützen. Seine Regierungf will gegenwärtig diesen Ruf nicht hören und verstehen. Aber Gott hat Preußen schon 2 Mahl geholfen, sollte dieser Staat nicht bestehen, er wäre schon längst untergegangen, auch ist nicht zu leugnen, daß die Basis auf der Preußen stehen soll, noch nicht ganz fertig ist und erst durch schwere Kämpfe errungen werden soll, sie besteht in der Union von wenigstens Norddeutschland. – gAn eine Erfrischung des europäischen Lebens durch fremde Völker, die etwa aus Osten kommen sollten, zu glauben, dazu sehe ich mich vergeblich nach Material um. Ich glaube wohl an eine allmähliche Kultivirung des Ostens von Europa, aber nicht dadurch, daß er dem Westen aufgeimpft wird. Ueberhaupt wollen mir die Präcedentien der Geschichte wie z. B. Wiederbelebung Europäischer Kultur durch germanische Stämme im Anfange der neueren Zeit, in Anwendung auf die jetzige Zeit nicht paßen. Damals galt es das Christenthum auf einen neuen frischen unverdorbenen Stamm zu pfropfen. Das Christenthum hat aber eine stets reproducirende Verjüngungskraft in sich, es ist noch nicht einmal in seinem 2ten Stadio, welches mit der Reformation beginnt, fertig und die neuen Erfindungen, Eisenbahnen und Dampfschiffe deuten vielmehr auf die Verbreitung christlicher Kultur vom Centro aus (Europa) nach der Peripherie (die übrigen Erdtheile). Aber Europa, sagt man, ist alt, Amerika wird für die weitere Verbreitung der Kultur sorgen. Dort ist die große Zukunft. An eine große Zukunft Amerikas glaube ich auch, aber in seiner Art, die von Europa ist eine andere. Eine solche Vielgestaltung von Individualitäten, wie sie Europa hat und wie sie aus seiner ganzen körperlichen geographischen Bildung hervorgegangen ist, hat kein anderer Erdtheil. Amerika wird vielleicht das Verbindungsglied zwischen Europa, Asien und Australien werden undh den Weltverkehr im größten Styl ausbilden. Aber es muß doch endlich die Zeit kommen, wo die ganze Erde mit ihren Völkern in fortdauernde gegenseitige Berührung kommt und wo dann Europa als das eigentliche Stammland der Kultur fortdauernd seine erwärmenden Strahlen nach allen Gegenden sendet, wie es gegenwärtig schon begonnen hat. Es hat lange in Sklavenfeßelni gelegen, diese werden ihm ja jetzt erst allmählich abgenommen und trotz dieser Feßeln hat es sich innerlich entwickelt. Warum sollte es zu || Grunde gehen, wenn es dieser Feßeln ledig zu werden anfängt?
So tröste ich mich, lieber Freund, über die Gegenwart, wenn ich auch viele trübe Stunden habe, in denen der Muth wanken will. So lange wir auf dieser Erde leben, so lange wir ihre Bürger sind, können wir es auch nicht laßen, sie zu lieben, für sie zu arbeiten. Sie hat ja nur einen Werth als der Wohnsitz eines geistigen Lebens, deßen Weiterentwikelung wir auf anderen Sternen erwarten und selbst, wenn wir alt geworden sind, wollen wir in dieser Kontinuität bleiben, die geistige Flamme soll so lange brennen, bis das alte Kleid abgelegt wird und wir ein neues erhalten.j Die Communikation mit Freunden und Büchernk wird Ihnen, teurer Freund durch den Verlust Ihres Gesichts sehr erschwert, was um so mehr zu bedauern ist, da sie noch eine große geistige Rüstigkeit besitzen und ihre geistige Lampe noch hell brennt, aber danken Sie Gott, daß er Ihnen Ihr geistiges Bewußtsein so frisch erhalten hat und möge diese Frische Ihnen erhalten werden, bis Sie Ihre Augen schließen.
Ihr
unveränderter Freund
Haeckel
Von meiner Frau die herzlichsten Grüße an Sie und die Ihrigen.
a korr. aus: noch fort; b eingef.: thätigen; c gestr.: und die in; d eingef.: einerseits; e eingef.: in, f gestr.: hat; g gestr.: wenn; h gestr.: einen; i eingef.: Sclaven; j gestr.: sollen; k eingef.: und Büchern