Carl Gottlob Haeckel an Charlotte, Karl und Hermine Haeckel, Berlin, 29./30. Dezember 1853

Berlin 29 Decmber 53.

Meine Lieben!

Heute hatte ich sicher auf einen Brief aus Ziegenrück gerechnet, es ist aber keiner eingetroffen, nun hoffentlich morgen. Wir haben hier sehr kalte Feiertage gehabt, am 1sten früha 15 Grad Kälte, später 8 Grad, da thut es Noth warme Zimmer zu bekommen, mein kleines Kabinet läßt sich indeß recht gut erheitzen. Ich denke unendlich oft an Euch, bin fast immer in Gedankenb bei Euch und wünschte c auch körperlich mit Euch zusammen zu sein. Ich denke schon daran, wie ich mich auf der Reise recht einpaken und unversehrt zu Euch kommen will. Man ist doch, wenn man alt geworden, ein ganz andrer Mensch. So fühlt mich auch die Kälte weit mehr an, wie in meinen Jugendjahren und ich suche dies durch wärmere Kleidung zu ersetzen. Wir haben die Feiertage ganz still und ordentlich gelebt, den ersten war ich mittags bei Naumann, den 2ten Mittags bei Julius (mit Heinrich geht es allmählich beßer). Abends war ich immer bei Vater und Bertha, gestern Abend besuchte ich Quinke. Am Weihnachtstage kam beifolgender Brief von Ernst an, der nicht allein mir sondern auch Vater und Bertha große Freude gemacht hat. Der Junge spricht sich offen über sein Thun und Treiben aus bis zur Universität und der Genius, der ihn treibt, tritt ganz klar hervor. Ich habe diesen Brief auch Weiss und Quinke mitgetheilt und beide sind der Meinung, man soll ihn in seinen Studien gewähren laßen und nicht stören. Quinke meint nun: zum praktischen Arzt werde er es wohl nicht bringen, aber den medicinischen Kursus müße er durchmachen, das scheint auch Ernst selbst zu wollen. Ich habe ihm vorgestern geschrieben und freundlich zugesprochen. Auch zeigte ich Quinke das ärztliche Attest aus Rhanis. Quinke meint: Ernst müße sich hier zum März stellen, er (Quincke) werde ihn schon unterstützen. Das Attest lautet nehmlich dahin, daß Ernst ganzd gesund sei, was er am Knie doch nicht ist. Heinrich aus Stettin wurde hier ärztlich untersucht und zu schwach befunden. Als er sich ine Stettin stellte, hieß es: zum Kavalleristen sei er nicht zu schwach, und so hat er Husar werden müßen. Die verschiedenen Militärbehörden nehmen auf die anderweitigen Atteste keine Rüksicht. – Es ist doch mit der Individualität eine wahrhaft räthselhafte Sache, nie hätte ich mir träumen laßen, daß ich grade einen Naturforscher zum Sohn haben würde. Die geistige Entstehung und Entwikelung des Menschen bleibt doch etwas Unerklärliches. So denke ich mir oft: was wird in dem Kleinen in Ziegenrück steken und was wird aus ihm werden? Carl ist in vieler f Hinsicht mir nachgeschlagen und wenn er nur erst mehr Muße haben wird, so wird er auch geistig fortschreiten. Fast überall versichern auch die Appellations Gerichtsräthe: sie arbeiteten nur an den Vormittagen und hätten den Nachmittag für sich und Carl muß sich für ein Lumpengehalt bis in die Nacht hinein plagen! Das geht auf die Länge nicht. –

Jacobis sind mehrere Tage hier gewesen und haben sich bestens an öffentlichen Orten amüsirt, einmal habe ich mit ihnen bei der Mutter Jacobi und einmal bei Vater gegeßen. Nichte Bertha ist mit ihnen nach Stettin gereist am heiligen Abend, undg hat heute geschrieben, daß sie morgen zurükkommt, was mir auch sehr lieb ist. Uebrigens sehne ich mich unendlich nach Dir, meine liebe Lotte, und ich zähle schon die Tage, wo ich Dich wieder haben werde. Man wächst doch in der Ehe recht zusammen. Vorige Woche hatte ich an Fritz Lampert geschrieben und bekam vorgestern schon Antwort. Mein herzlicher Brief hatte ihn sehr erfreut, ich hatte ihn gebeten, Amalie und Caroline das gewöhnliche Weihnachtsgeschenk einzuhändigen und er wollte es am 1sten Feiertage, wo die Giesel bescheren laßen will, mit aufbauen. Die Berechnung werde sich finden. Die Leinwand hat er abgeschikt und sie wird nächstens hier eintreffen. Am 1sten Feiertage haben sie in Hirschberg 23 Grad Kälte gehabt, hier bei uns nur 15, und dieses schon war genug. Am Weihnachtsabend ließ Bertha den Christbaum anzünden, was ihr viel Spas machte, Theodor und ich waren da, und es wurde Punsch getrunken. Am 1sten Feiertage gieng ich zu Jonas in die Kirche, am 2ten Vormittag war August Sack bei mir, da er einige Wochen in Dortmund gewesen und mir von unsrer Kohlengrube erzählte, sie haben außer den Kohlen auch viele Eisensteine gefunden, die wir an die dortigen Hochöfen gut werden versilbern können. Die Aussichten stellen sich als gut dar, aber unter 4 Jahren sind noch keine Zinsen zu erwarten. ||

Ich las in diesen Tagen ein Buch von Steffens „Die gegenwärtige Zeit und wie sie geworden“ was er vor 36 Jahren geschrieben. Aber was hat sich die Zeit seitdem geändert, wie ganz anders ist sie geworden. Zuförderst äußerlich, die Industrie der Handel und Völkerverkehrh hat seitdem einen ungeheuren Aufschwung gewonnen, der durch die Eisenbahnen und Dampfschiffahrth noch bedeutend gesteigert worden ist, das constitutionelle Wesen ist inzwischen ins Leben getreten und damit ein großer Schritt vorwärts geschehen. Daß man es wieder niederdrücken will, wird die Sache nicht ändern. Kurz die Regierung kann nicht mehr offen und principiell nach Willkühr verfahren, auch wenn sie es (wie unter dem verstorbenen Könige) noch so gut meint, sie muß ihre Willkühr versteken und ihr ein constitutionelles Gewand anziehn. Diese öffentliche nothwendige Anerkennung des Princips ist ein großer Schritt vorwärts, den alle Misbräuche der Regierung nicht rükgängig machen können, und welcher dereinst seine Früchte tragen wird. – Sodann sind seit 40 Jahren die kirchlichen Controversen in ihr volles Leben getreten, auch dieses ist ein Schritt vorwärts. Das Christenthum hat als göttliche Offenbarung und Bildungselement für die Menschheit seine volle Anerkennung gefunden, unter beiden streitenden Partheien. Den streng Orthodoxen und den Leuten des Fortschritts; grade die strenge Orthodoxie hat durch ihre Uebertreibung das wahre Christenthum gefördert, man hat geforscht: was denn das eigentlichei Wesen des Christenthums und ob es wirklich göttlichen Ursprungsj sei? und dieses immer klarer herausgestellt. Politisch und religiös sind wir jetzt in den bedeutendsten Kämpfen begriffen und die Regierung seit 1840 hat diese Kämpfe aufs wesentlichste gefördert. Man erstaunt oft, wie sonst vernünftige Menschen jetzt unter der Aegide der Regierung so ganz umgeschlagen sind, wie ihnen die einfachsten, gesundesten Ansichten entschwunden sind und sich in Zerrbilder verkehrt haben, so daß wir jetzt die entgegengesetzte Krankheit von der vom Jahr 1848 haben. Das sind unnatürliche Zustände, die auf die Länge nicht dauern können. – Sieht man sich das Getreibe der Hauptstadt an, so findet man die größten Contraste: einen überhand nehmenden Luxus, so daß die Wagen vor Gerson nicht Platz haben und dann wieder die Matthäikirche mit ihren frömmelnden Hofschranzen und dem Schweif der Absolutisten, denen alle Freiheit ein Wahnsinn ist und die sich so recht in der Knechtschaft zu gefallen suchen! Der wachsende Luxus hängt auch mit der wachsenden Industrie zusammen und geht durch die ganze Welt: wir finden ihn in Frankreich, England, Nordamerika, Californien und Australien. Je mehr der Mensch Herr der Natur wird, desto mehr vervielfältigen sich die Bedürfniße. Aber er darf nicht Sklave dieser Bedürfniße werden, es muß ein geistiges Princip geben, dem sich die äußere Bedürfnißwelt unterwirft. Dieses finden wir in dem Streben nach Entwikelung der geistigen Individualität und der politischen Freiheit und in dem keimenden Bedürfniß nach dem Erkennen des Wesens des Christenthums. Das Christenthum macht uns die äußere Welt unterthan und führt die materiellen Besitzthümer in die Schranke, wornach sie blos Mittel werden zu Ausbildung geistiger Fähigkeiten und einer wahrhaft menschlichen Kultur. Damit wir diese schätzen lernen, stellt uns die Weltgeschichte in dem vorwärts strebenden Rußenthum, welches das personificirte Barbarenthum ist, die Roheit und Willkühr in ihrer nacktesten und widrigsten Gestalt gegenüber und droht uns mit diesem Schreckbilde, falls wir in Weichlichkeit und Schlaffheit versinken wollen. Das wird große Kämpfe geben. Die Welt ruht jetzt noch aus, um dann die Kräfte um so stärker aneinanderschlagen zu laßen. Dann denke ich mir: was werden unsre Kinder noch erleben! Zwar weist Christus hauptsächlich auf den ewigen Theil unsrer Natur zurük, und dem zufolge auf die Bekämpfung desjenigen Irdischen in uns, was dem Ewigen zuwider ist, auf die Bekämpfung der Sünde in allen ihren Gestalten. Aber schon in den Paulinischen Briefen findet sich das Anerkenntniß der Ausbildung der Individualität, jeder soll nach seinen besondern Kräften zur Verbreitung des Reiches Gottes auf Erden mitwirken. Dieses Reich duldet aber keine Rohheit, keine Barbarei, in jedem Individuum soll die Anlage zum Göttlichen anerkannt werden (allgemeine Menschenliebe, Humanität, keine süßliche, sondern mit Aufopferungen erkämpfte), die edle Menschlichkeit soll überall gefördert werden; dazu gehört auch die Anlage und das Gefühl für das Schöne, für die Kunst, die Erweiterung des Reichs der Wahrheit durch die Wißenschaft, die Ausbildung der Sitte. So sprießt alles, was wir europäische Kultur nennen, aus dem Boden des Christenthums. Diese Kultur ist bereits nach Amerika und Australien übergetragen und wächst dort fort und sie wird zuletzt auch ink Asien und Afrika einheimisch werden, wozu in Ostindien und Algerien schon der Anfang gemacht ist. Die Türken erkennen doch auch die Einheit Gottes und sind keine Götzendiener, aber es ist etwas Einseitiges, Faules in dem Mohammedonismus, die Frauen und das Familienleben kommen nicht zu ihrem Recht und der blinde Glaube an die Vorherbestimmung lähmt die Thätigkeit und Kraftentwickelung der Menschen. Die Türken können es mit den Europäern nicht aufnehmen, und sie werden sich, wollen sie in Europa bestehn, unbewußt christianisiren laßen müßen. ||

Den 30 December

Auch heute noch kein Brief von Ziegenrück, Ihr laßt uns lange zappeln. Wir wollen aber keine Wiedervergeltung üben, sondern Brief und Kistchen abgehen laßen. Damit Ihr es zum Neujahr habt. Gott segne Euch alle zum Neuen Jahr; wenn es sein Wille ist, so laße er uns noch einige Jahre zusammen leben. Ein schönes Familienleben, so wie wir es haben, ist doch eine herrliche Sache. Jedes Glied rankt sich an dem andern empor, jedes will ein würdiges Theil des Ganzen sein. Insbesondre danke ich dem lieben Gott auf das Innigste, daß er mirl Dich, liebe Lotte, m und so liebe Kinder gegeben hat. Ich habe vielleicht, bei meiner unbändigen Natur, am schwersten zu kämpfen gehabt, aber das Streben nach dem höhern habe ich nie aus den Augen verloren, so toll es oft hergieng. Noch gestern wurde ich daran erinnert und zwar, wie Ihr Euch vielleicht wundern werdet, in einem gedrukten Buche, worin gedrukte Briefe von mir vorkommen. Püttmann hatte mir den Briefwechsel zwischen Göthe und Schulzn gebracht. In diesem ist voran eine Lebensbeschreibung von Schulz, worin auch vorkommt, wie er Weihnachten 1810 in Grüssau waro, und wir unsre Bekanntschaft und Freundschaft erneuerten, und wir am 31 December mit Körber und Fesser zusammen den Sylvester (Schulz Geburtstag) feierten, worüber Schulz an seine Frau schreibt. Schulz war kein leicht verständlicher Mensch, aber bei großen Fehlern (starrsinnig und despotisch)p eine höher strebende Natur, was uns sehr an ihn heranzog. In Grüssau sprachen wir uns aus und ich wurde sehr an ihn herangezogen, was ich in einem Briefe an ihn, der mit abgedrukt ist, aussprach und zugleich von der damaligen Richtung meines Lebens Zeugniß giebt. Schulz war der Absolutismus angeboren und er würde falls er noch lebte wahrscheinlichq ein starker Gegner des Constitutionalismus sein, aber aus innrer Ueberzeugung, gemeine Triebfedern waren ihm fremd und er konnte für seine Ueberzeugung seine ganze Existenz daran setzen, wie er grade damals (im Jahr 1810) gethan, wo er mit dem Staatskanzler in den heftigsten Conflikt gerieth. Später hat er seine Freunde Schleiermacher, Reimer, mich etc. gemieden, weil wir liberal und constitutionell waren. Aber wenn er noch lebte, ich würde doch zu ihm gehen und schwerlich von ihm laßen, so wie es mich noch heute zu Esmarch hinzieht. Das Gemüth geht über die Geistesrichtungen noch hinaus und man kann von dem nicht laßen, den man einmal ordentlich geliebt hat. r Die Differenz mit Esmarch, wovon ich in dem letzten Briefe schrieb, hat das Gemüth nicht berührt und es ist sogar in seinen divergirenden Ansichten Verstand, und man muß ihnen theilweise sogar beipflichten, aber er sieht die Dinge nicht so wie sie wirklich sind und darum hat er eine etwas schiefe Richtung genommen. Ich suche andrerseits wieder meine Ansicht durch seine zu berichtigen, aber ich bleibe in der Grundfährte, die ich eingeschlagen und gefunden habe und laße mich darin nicht irre machen. Wenn ich zu Euch komme, mündlich mehr. In diesen Tagen ist der General v. Radowitz gestorben. Während seine frühern Freunde ihn als einen Abtrünnigen verketzern, hat er doch die meisten seiner frühern Gegner von seiner Ehrlichkeit überzeugt. Eben weil er ehrlich war, verschloß er seinen Geist nicht gegen die großen Weltereigniße und ließ diese auf sich wirken, das geht aus s seinem Buche, was ich Dir Carl dort gelaßen habe, klar hervor. Er wußte selbst seine Phantasie, auf der sein Katholicismus ruhte, in der Politik zu zügeln, was sein königlicher Freund nicht vermag und er wird nun dort die Auflösung der irdischen Räthsel finden, nach der wir uns alle sehnen. Er hat noch im letzten Moment seinen Kindern die Bedeutung des Weihnachtsfests erklärt, hat sich dann umgewendet und ist verschieden.

Mittag 12 Uhr. So eben bringt der Postbote Eure Briefe v. 26sten nebst dem Päkchen Rebhüner und Weihnachtssachen.

Abends 6 Uhr. So eben kommt Bertha von Stettin zurück.

Heute Mittag machte ich das Päkchen von Ziegenrück auf und schikte esh nebst Brief sogleich an Tante Bertha. Das ist ja eine meisterhafte Beschreibung des Jungens von Mimi, nun kann ich mir ihn sogleich zeichnen, schade daß Ernst nicht hier ist. In Stettin ist alles wohl, Christian kann von Mitte Januar an abkommen, oder vielmehr, es ist ihm am liebsten in der 2ten Hälfte des Januar. Mir aber ist es am liebsten, bald [bei] Euch zu sein. Ich wünsche also, daß wir spätestens den 15 Januar von hier nach Ziegenrück reisen. Nun arrangirt das Weitere. Außer Ernst’s Brief folgt noch einer von Frau v. Brauchitsch in Merseburg, den Du Lotte bald beantworten mußt, ferner einer von der Grumbach an Dich Lotte. Jetzt muß ich schließen. Die Sachen müßen zur Post.

Hkl

a eingef.: früh; b eingef.: in Gedanken; c gestr.: bei Euch; d eingef.: ganz; e gestr.: In P; eingef.: Als er sich in; f gestr.: M; g eingef.: ist mit Ihnen … Abend, und; h eingef.: der Handel und Völkerverkehr; i eingef.: eigentliche; j eingef.: und ob es wirklich göttlichen Ursprungs; k gestr.: nach; eingef.: in; l eingef.: mir; m gestr.: mir; n gestr.: Schiller; eingef.: Schulz; o eingef.: war; p eingef.: (starrsinnig u. despotisch); q eingef.: wahrscheinlich; r gestr.: In; s gestr.: dem; t gestr.: Bertha; eingef.: es;

Brief Metadaten

ID
36001
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Königreich Preußen
Datierung
30.12.1853
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
3
Umfang Blätter
2
Format
21,5 x 27,0 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 36001
Zitiervorlage
Haeckel, Carl Gottlob an Haeckel, Charlotte; Haeckel, Karl; Berlin; 30.12.1853; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_36001