Carl Gottlob Haeckel an Charlotte, Karl und Hermine Haeckel, Berlin, 22. Dezember 1853

Berlin 22 December 53

Meine Lieben!

Diese Zeilen sollt Ihr zum heiligen Abend erhalten. Zuförderst sei Gott gedankt, daß Mimi wieder beßer ist, wie ich aus Deinem liebe Lotte so eben eingegangenen Schreiben von Vorgestern ersehen habe. Nun können wir schon unsre Eintheilungen und Berechnungen von Januar machen. Es wird freilich hauptsächlich auf Christian ankommen, wann und wie lange der fortkann. Doch ich will jetzt nicht zu lange wegbleiben und die Mädchen, die Dich herzlich grüßen, sehnen sich sehr nach Dir. Nichte Bertha geht übermorgen auf 4 Tage nach Stettin, weil es Christian ausdrücklich wünscht, das kann ich ihm auch nicht verargen, er will die Kinder möglichst um sich haben und Hermine wird ihm so schon sehr fehlen. Heinrich kommt aus Posen hin und Jacobis sind schon da, sie sind jetzt hier und gehen mit Bertha übermorgen zurük. Heinrich dient beim 2ten Leibhusaren Regiment, bei dem ich gestanden habe. Er muß tüchtig reiten lernen und hat schon ein Paar mahl auf der Erde gelegen (oder auf der Reitbahn im weißen Sande) was auch ganz in der Ordnung ist. Die Mutter weis es nicht.a Kein Meister fällt von Himmel und sie müßen zuerst auf der bloßen Deke oder Sattel ohne Steigbügel reiten, was nicht leicht ist. Das gehört alles zum Leben. Mir hat Minchen und Nichte Bertha sehr zugesetzt, ich soll mitb nach Stettin kommen, allein ich will einmal Vater und Bertha nicht allein laßen und dazu leide ich noch immer etwas an Rheumatismus von Brust und Naken und will mich ganz gesund zu erhalten suchen, damit ich nach Ziegenrück reisen kann. Denn das ist jetzt die Hauptsache, ich muß die Kinder und den Kleinen sehn. – Du schreibst, ich solle mit der Einholung der Coupons warten, bis Du zurükkommst. Das geht aber nicht, denn ich brauche das Geld zur Reise, weil ich von der Pension alle Weihnachts- und VierteljahrsRechnungen bezahlen will, Miethe, Quincke, Buchhändler, die Weihnachtsgeschenke. Da ist über die Pension vollständig disponirt und die zu erwartenden Zinsen betragen 226 rℓ. Ich habe im eigentlichsten Sinn die Nase ins Buch steken und mich vollständig informiren müßenc und bin jetzt völlig zu Hause. Die ausgeloste Köln-Mindner Aktie befindet sich schon bei Joachim, bei dem ich in den letzten 8 Tagen wenigstens 5 Mahl gewesen bin, besonders wegen Versilberung der Cölln-Mindner Aktien, wozu aber noch einen beßerer Cours abgewartet werden muß. Ich habe mir alle etwa vorkommenden Weihnachtsausgaben überschlagen und darauf meine Eintheilung gemacht, ich bin, da ich meine Lotte nicht hier habe, mein eigner Finanzminister gewesen. Alle unnützen Ausgaben weise ich von der Hand, damit für das Nöthige gehörig gesorgt sei und ich bin ein ganz sparsamer Hausherr geworden. Was gehn mich die gewöhnlichen Tändeleien des Luxus an? Dazu habe ich kein Geld. Aber was der Hausstand, die Geistesbildung, die Unterstützung der Kinder erfordert, dazu muß das Nöthige vorhanden sein. Jacobis sind hier, Clärchen ist in Stettin und wird nun schon dieses Weihnachten viel Spaß machen. Gestern Mittag waren wir bei der Geheimen Räthin Jacobi, die ich mehrmals besucht habe. Am wenigsten bin ich bei Julius gewesen, ich habe nur manchmal vorgefragt, wie es Heinrich geht und wir hatten täglich mehrmals Nachricht. Es war uns sehr bange um den prächtigen Jungen, er scheint doch aber fortwährend und langsam in der Beßerung zu sein. Vorgestern war Julius und Adelheid im Don Juan und hatten Bertha und Theodor, die ich ebenfalls hinführen wollte, mitgenommen. Es war sehr voll. Nach um 6 Uhr gieng ich hin und konnte von einem gewöhnlichen Verkäufer (nicht an der Kaße) ein Billett erhalten, ich fürchtete Betrug und kaufte es nicht, was mich nachher gereut hat. Gestern Abend gieng ich paar Stunden in der Stadt und auf dem Weihnachtsmarkt herum, die Verkäufer klagen über Mangel an Absatz, weil die Theuerung der Lebensmittel die ärmsten Klaßen etwas einzukaufen verhindert. Sonst ist das Winterwetter sehr angenehm, aber eigentliche Schlittenbahn haben wir noch nicht, gestern aber hat es geschneit und es wird nun wohl dazu werden. Solch Wetter gefällt mir, || ob ich gleich fühle, daß ich nicht mehr die stählerne Natur der Jugend habe. Aber ein ordentlicher Winter gehört zu unserem deutschen Klima, und dieses Mahl ist er zu gehöriger Zeit eingetreten. Bei Euch muß es jetzt sehr hübsch sein. Wenn ich gegen halb 8 Uhr aufstehe und in die kalte Stube komme, ziehe ich jetzt täglich meinen Pelz an und mache darin meine WaßerPromenade. Aber zum Spatzierengehn ist er mir zu warm, da trage ich meinen neuen Winterüberzieher, auf der Reise nach Ziegenrück soll er mir aber ganz gut thun. Gelesen habe ich in den letzten 8 Tagen wenig, dagegen mehr gerechnet, die Wirthschaftsbücher (aber nicht das Detail der Wirthschaft) durchlaufen und Besorgungen gemacht, der Tag ist außerordentlich kurz, vor Tisch (v. 1–2 Uhr) gehe ich auf Quincke’s Geheiß spatzieren und dann noch zwischen 5–7 Uhr zur Verdauung. Der alte Körper will gehörig gepflegt sein; geschieht nicht alles zur rechten Stunde, so schreit er, besonders im Eßen muß ich Diät halten, daß ich nicht zu viel eße. Abends wird in der Regel bei Papa eine Suppe gegeßen, von 7–9 Uhr wird gespielt und da muß Nichte Bertha und auch wohl Theodor mit heran, und dann plaudiren wir gewöhnlich bis gegen 11 Uhr. Gestern beim Nachhausegehn applicirten sich Bertha und Theodor einige Schneebälle und verfolgten sich bis in unser Haus. Vorgestern Abend als ich ins Haus treten wollte, kam eben Frau v. Schenk heraus, um sich in die Troschke zu setzen. Sie läßt Dich herzlich grüßen und fragt immer sehr theilnehmend, wie es bei Euch geht. –

Mit Frau v. Bassewitz geht es hoffentlich immer beßer, vor etwa 6 Tagen war der Landrath (ihr Sohn) bei mir und trank bei mir Kaffee. Die Mutter war außer Gefahr. Gestern besuchte mich Richter und erfuhr Herminens Niederkunft, ich hatte nicht dazu kommen können, ihm zu schreiben und er hatte keine Zeitungen gelesen, er läßt herzlich grüßen. Das Consistorium möchte gern mit aller Gewalt wieder den Hausgottesdienst einführen. Wenn auch die Nothwendigkeit zugegeben werden muß, so läßt sich doch so etwas nicht erzwingen. Es muß sich von selbst machen und ich habe auch schon nachgedacht: wie das zu machen sei? Aber das Stundenhalten an jedem Tage fördert die Andacht auch nicht. In England soll der Hausgottesdienst noch stattfinden. Aber dort ist die Religion etwas viel Äußerlicheres als bei uns. Sydow, der es doch kennt, meinte: es sei in Deutschland viel mehr wahre Religion. Wo indeß diese ist, da drängt sichd auch das Bedürfniß der Andacht auf, nur laßen sich schwer die Stunden fixiren. Meine Eltern beteten alle Morgen kurz vor dem Frühstük den Morgensegen aus einem erbaulichen Buche. Ich gebe zu, daß dieses nicht ohne Wirkung war, und ich glaube auch, daß irgend etwas an die Stelle treten muß, diesen Winter giebt es hier in Berlin öfters AbendGottesdienste (um 6 Uhr an den Sonntagen). Auch die Unionsvorträge fallen in diese sehr gelegene Stunde. Das öfteree Lesen einer ordentlichen Predigt dürfte vielleicht das zwekmäßigste sein. Gestern bei Tisch war so die Rede von mehreren Wiederholungen. Die jungen Leute gehn doch mit vieler Leichtigkeit in das eheliche Leben hinein, was doch so ernst ist und so vielerlei Prüfungen darbietet. Ein Schritt folgt dem andern, eine Generation der andern, da frägt sich ein besonnener Mensch: was wird denn zuletzt aus allem diesem Getreibe? und da wird man dann in die Weltgeschichte hingewiesen, die Gott nach bestimmten Gesetzen geordnet hat, so vieles auch zufällig erscheinen mag. Die Menschen halten sich aber mehr an das Zufällige, laßen sich davon loken und reitzen, jeder nach seiner besondern Lust und doch müßen sie, ohne es zu wißen, der Entwikelung des Ganzen dienen. Gott sei Dank, daß es so ist; eine planlose Weltgeschichte, das wäre ja zum verzweifeln. – Nun ein heiteres, freundliches Fest, in wenigen Wochen, so Gott will bin ich bei Euch. A Dieu meine Lieben, grüßt mir den kleinen Kerl, den ich ganz ordentlich ins Auge faßen will, wenn ich hin komme.

Euer Alter Hkl

Eltester hat vor einigen Tagen in der Garnisonkirche in Potsdam eine Predigt für den Gustav-Adolphs Verein gehalten, die sehr gefallen hat. Der König ist auch darin gewesen und hat 10 Friedrich d‘or gegeben. Es geht damit doch vorwärts.

: a eingef.: Die Mutter … nicht.; b eingef.: mit; c eingef.: müßen; d eingef.: sich; e eingef.: öftere

Brief Metadaten

ID
35999
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Königreich Preußen
Datierung
22.12.1853
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
2
Umfang Blätter
1
Format
21,5 x 26,8 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 35999
Zitiervorlage
Haeckel, Carl Gottlob an Haeckel, Charlotte; Haeckel, Karl; Berlin; 22.12.1853; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_35999