Sethe, Anna

Anna Sethe an Carl Gottlob und Charlotte Haeckel, Steinspring, mit Nachschrift von Bertha Petersen, 13. Februar 1859

Steinspring den 13. 2. 59.

Wie gern ich am 16ten bei Euch wäre, liebe Eltern, brauche ich Euch wohl nicht erst zu sagen, um den Geburtstag des lieben, lieben Ernst zusammen zu feiern, so gut es eben geht, wenn das Beste fehlt. Da ich aber nicht Flügel habe wie der Vogel, den ich kürzlich aus dem Buch von Michelet: „Der Vogel“ betitelt, von seiner schädlichen und nützlichen, seiner ungemein zart fühlenden und doch muthigen Seite, kurz als ein höchst liebenswerthes Thier kennen gelernt habe, sollen diesen [!] Zeilen Euch meinen herzlichen Gruß bringen zu dem Tage, wo Ihr den Ernst gewiß recht fühlbar vermißen werdet, sollen Euch sagen, wie innig ich Eueren prächtigen Jungen liebe und zu Gott hoffe, ihn später als sittsame, fleißige Frau recht glücklich zu machen. Ich will Gott bitten ,ihn seinen Geburtstag noch recht erleben zu laßen, aber nicht fern von mir (da ist es eben nur ein trüber Tag) ihn gesund und munter zu erhalten, ihm Material und die alte Arbeitskraft zu schenken, daß er befriedigt aus dem Süden in die Heimat zurückkehrt, gewachsen an energischer Kraft und innerem religiösen Gehalte und ein tüchtiger Mann seines Berufes wird; neben diesem muß er seiner Anna das liebe Plätzchen in seinem Herzen bewahren, das er ihr einmal geschenkt hat, aber nicht zu viel Raum ein-||nehmen laßen. Meine Gedanken, die ohnehin mehr in Italien, als hier im Forsthaus sind, werden Mittwoch wohl gänzlich dort sein; ich hätte ihm so gern eine Freude gemacht, allein er hatte es mir ja streng untersagt, so habe ich dann Freitag meinen Brief und ein paar aufgeklebte Moose als Gruß aus dem Walde an ihn abgeschickt und hoffe, daß er ihn eben so glücklich erhält, als meinen ersten nach Genua. Habt tausend Dank, daß Ihr mir seinen Brief vom letztgenannten Ort sogleich geschickt habt; ich hatte schon von Tag zu Tag sehnlich darauf gewartet und habe mich auch nicht umsonst gebangt; die Paßage über den St. Gotthard hätte nicht schlimmer sein können; da ich von Schneefall nichts in der Zeitung gelesen habe, die täglich gegen Mittag hergebracht wird, und hier die Felder ganz grün [sind] und vollständige Frühlingsluft weht, so hatte ich an diesen Ausgang nicht gedacht. Gott sei Dank, daß er glücklich hinüber ist, und, der Gefahr im Rücken, sich freut über die herrlichen Naturgenüße, die ihm seine lieben Alpen auch im Winter geboten haben. Ich bin sehr begierig auf die Beschreibung des zweiten Reisetags, die gewiß bald nachfolgen wird. Ich habe gleich Freitag den Brief von Ernst, nachdem ich ihn abgeschrieben hatte, an Mutter mitgeschickt, die ihn hoffentlich richtig an Euch befördert hat. Mutter wird || nun wohl bald Berlin verlaßen, denn ich warte täglich auf eine frohe Nachricht von Freienwalde; Hätte Hermine nur Alles glücklich wieder überstanden! Ich habe ihr gestern geschrieben und zugleich klein Annchen zum Geburtstag gratulirt, an welchem Tage in Zukunft vielleicht zwei Geburtstage gefeiert werden müßen; was ich sehr niedlich fände. Wie lebt Ihr denn jetzt in der Einsamkeit? Oder habt Ihr Ottilie Lampert schon dort, so bitte grüßt sie. Ebenso Tante Bertha und Mariechen, die nach Mutters letztem Brief wieder kränkelt. Mehr beunruhigt hat mich aber noch die Nachricht von Onkel Bleeck’s Unwohlsein, deßen häufige Wiederholung bei seinem starken Körper wohl nicht ohne Gefahr ist. Was sind für Nachrichten von Philipp. Habt Ihr auch einmal einen von Ernst’s Bekannten gesehen? Ich habe mich hier sehr nett mit Bernhard und Bertha eingelebt, und das kleine Klärchen macht mir sehr viel Freude. Sie ist körperlich und geistig gesund und sieht Einen mit ihren großen blauen Augen so verständig an, daß man ihr Alter darüber vergißt. Sie ist immer guter Laune und läuft den ganzen Tag im Zimmer umher und sitzt Abends mit ihrem hohen Tul [!] bei uns am Tisch. Sie plappert Alles nach, natürlich noch in einer etwas fremden Ausdrucksweise; Anna sagt sie sehr deutlich, allein Tante hält sie für überflüßig. Um 6 Uhr stehe ich Morgens auf und lese gewöhnlich etwas für mich, weil Bertha bei || ihrer Schwerfälligkeit gern länger schläft; nach 7 Uhr wird gefrühstückt, was sich durch Plaudern etwas in die Länge zieht; bis 10, 10 ½ Uhr tummele ich mich dann mit Bertha in der Wirthschaft umher, die jetzt außer den beiden Mädchen und dem Knecht aus drei Kühen, einem Kalbe, zwei Pferden, drei Hunden, drei Katzen und 10 Hühnern besteht, die schon fleißig Eier legen. Dann arbeite ich entweder oder schreibe an Ernst, weil Klärchen dann schläft und nicht immerfort stört, wie jetzt, wo sie Allesmögliche von mir haben will. Um 12 wird Mittag gegeßen und nachher gehen wir bei gutem Wetter spazieren. Der schöne Wald, in deßen grünen Kiefernpartien, die meist auf hügeligem Terrain stehen, bietet sammt der herrlichen, erfrischenden Luft die beste Gelegenheit dazu. Um 4 Uhr wird Kaffee getrunken, und die Zeit vorher benutze ich für mich zum Lesen. In der ersten Zeit habe ich den Vogel von Michelet im Französischen gelesen, jetzt Eschricht’s Physiologie, die mir Ernst zu Weihnachten geschenkt hat. Beim Kaffee wird die Zeitung durchstudirt, noch viel lieber ein Brief, namentlich, wenn er aus Italien kommt, gelesen. Um 7 Uhr wird Abendbrod gegeßen und dann beginnt die Hauptarbeitszeit, zu der Bernhard, der den ganzen Morgen im Revier ist, vorlies’t; einige Auszüge aus dem Insekt von Michelet, das mich sehr intereßirt, und jetzt die Träumereien eines Junggesellen aus dem Englischen von Marvel. Um 11 Uhr wird zu Bett gegangen. Ich will mich auch jetzt von Euch trennen und bemerke nur noch, daß ein Brief hierher nur 2 Sgr kostet, nicht drei. Herzliche Grüße an Mutter, wenn sie noch da ist, und Heinrich, Mutter Reimer und Georgs [!] von Eurer dankbaren Tochter Anna.

[Nachschrift von Bertha Petersen]

Meine liebe Tante Lotte! ich will Dir doch gern selbst einen Gruß und recht herzlichen Dank sagen für den Gries, den ich ja wohl in den nächsten Tagen erhalten werde, er ist mir höchst willkommen – Über Annas Hiersein bin ich sehr glücklich – Grüße den lieben Onkel + Alle von Deiner dankbaren Nichte

Bertha

 

Letter metadata

Verfasser
Datierung
13.02.1859
Entstehungsort
Entstehungsland
Zielort
Berlin
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 34435
ID
34435