Gegenbaur, Carl

Carl Gegenbaur an Ernst Haeckel, Jena, [Mitte bis] 18. November 1866

Jena, November 1866

Liebster Ernst!

Aus Deinen letzten Briefen ersehe ich daß Du meine jüngste Mittheilung, die Dir vor Deiner Abreise nochmals Lebewohl zuzurufen bestimmt war, nicht erhalten hast. Ich wiederhole daher beiläufig das dort Dir Berichtete, und muß dabei von mir beginnen, so wenig erfreulich es auch ist. Mitte October wird es gewesen sein als ich, bei meiner Schwester mich aufhaltend, bald nach dem Empfangen Deines lieben Briefes aus Bonn von einem heftigen Durchfall befallen ward, der bald wieder weichend doch mir räthlich erscheinen ließ, nach Würzburg zu gehen, um dort mich in ärztliche Behandlung zu begeben. Die Sache verschlimmerte sich und so lag ich denn 14 Tage in W., trüben Gedanken mich hingebend, und schon daran denkend mich hier in meiner Stelle vertreten zu lassen. Ich will Dir jene Zeit nicht ausmalen, Du vermagst auch ohne das zu verstehen wie es mir in jenen Wochen zu Muthe gewesen sein mag. In Anfang Novembers war mein Zustand doch wieder so weit gebessert, daß ich die Reise hieher antreten durfte, und unter fortgesetzter Behandlung bin ich endlich wieder soweit meinen Lehrpflichten nothdürftig nachgekommen. Daß ich körperlich und psychisch sehr heruntergekommen bin, brachte die Krankheit, sowie Alles daran sich anknüpfende mit sich. Wie es mir noch sehr schwer wird auch nur einen Gedanken festzuhalten, so erfordert auch jede kleine körperliche Leistung eine große Anstrengung; doch sollst Du, theurer Freund, deßhalb nicht länger ohne Nachricht bleiben, denn es drängt mich Dir wichtigeres zu sagen. Zunächst muß ich Dir über Dein Buch schreiben, das stattliche Werk, das einen Tag nach meiner Ankunft mich hier freudigst überraschte. Ich sage überraschte, denn wenn auch bereits vieles mir durch Deine Mittheilungen bekannt war, und auch a der Umfang nicht befremdete, so war doch die ganze „Persönlichkeit“ des Werkes mir eine neue Erscheinung, die mir so entgegentrat wie ein lang erwarteter Freund dessen Bekanntschaft man nur auf dem Wege brieflichen Ideenaustausches gemacht hat. Diesen ersten Empfindungen folgte aber die tiefste Rührung als ich meinen Namen dem ersten Band vorgesetzt fand und die warmen Worte der Freundschaft las, mit denen Du die Zueignung begleitetest. Liebster Freund! Du hast mir wahrlich zu viel der Ehre erwiesen, nicht ohne Beschämung denke ich daran, und nur wenn ich daraus erkennen will und darf und soll welch‘ treuen, wahrhaften Freund ich an Dir für’s Leben, für Glück und Unglück, besitze, nur dann wandelt sich das Gefühl der Beschämung in Stolz und Freude um. Ja, laß uns immer zusammengehen, Laß mich Dir ebenso treu folgen wo Du mir vorausgeeilt! – – Die Bahn wird doch immer eine gemeinsame sein. – ||

Zu einem systematischen Studium des Buches bin ich noch nicht gekommen. Ich darf noch in keiner Weise mich anstrengen, daher ist meine Beschäftigung mit dem Werke nur auf ein Durchblättern beschränkt. Ein freudiges Glück auf! Dir zuzurufen wird mir aber dennoch gestattet sein. Das mag all‘ das ersetzen was ich bei Anlaß der Vollendung einer so hohen Aufgabe Dir zu sagen hätte. Freie Bahn! Die Losung Deines Unternehmens, sie wird gebrochen werden, sie wird sich öffnen. Daß ich in meiner Einsamkeit von außen her wenig vernehme, ist erklärlich. Doch kam Seebeck als ich ihm neulich das Buch zugeschickt hatte, gleich zu mir, um sich freudigst gegen mich zu äußern, wenn auch sein Standpunkt, wie uns ja bekannt, ein anderer ist. Auch Czermak studirt das Buch, wie er mir sagte, mit großem Intereße. Er schien erwartet zu haben, es von Dir zu erhalten. Daß der Botanikus sehr b disgustirt ist, war zu erwarten. Ich habe ihn zwar noch nicht gesehen, höre aber so von Cz. Der junge Engelmann der nächstens als Assistent zu Donders geht, drückte mir neulich in einem gelegentlichen Briefe gleichfalls seine Freude über das Buch aus. So wird sich denn bald der Scheidungsprozeß vollziehen. Die Parole ist gegeben, die Fahne entfaltet, und die Männer mögen sich zum Kampf rüsten! Alte und neue Zeit, träumerische Irrwege zu trägem Lustwandeln geschaffen, und beschwerlicher Pfad mit dem sicheren Ziel am Ende, sie liegen beide vor uns, warten wir ab wohin die Schritte sich lenken.

Deine Aufträge habe ich erfüllt. Die Stücke sind an ihre Adressen gelangt. Endemann ist das vordere Eckzimmer Deiner Wohnung angewiesen. Die beiden großen Schränke ließ ich darin stehen. Alle anderen Meubles sind anderwärts untergebracht. Die Zimmer abgeschlossen. Außer Kreuzbandsend. ist nur 1 Brief angekommen den ich nach Deinem Auftrage eröffnete. Er ist von Dr. Reich in Gotha der zum Werke Glück wünscht, und um 1 Exemplar bittet um es „in Nord und Süd“ bekannt zu machen! Soll etwas geschehen?

Von hiesigen Vorkommnißen kann ich Dir nichts erfreuliches melden. Todesfälle: Prof Scheidler. Diac. Schläger. OAR Schröter. Seebeck’s erleben viel Elend mit ihrem Sohne Bernhard, der wie es scheint, rasch seinem Ende entgegengeht, schwerlich mehr den Frühling sehen wird. – Bei dem eben stattgehabten Examen phys. hat Czermak für Dich geprüft, da mir es von Gerh. verboten war.

18. Nov Es war mir nicht möglich den angefangenen Brief auf einem Sitze zu beenden. Sowohl Vorlesung als Präparirsaal strengen mich außerordentlich an, so daß ich müder denn je nach || Hause komme. Meine beiden Assistenten sind ausgetreten. Der eine schon im vorigen Semester angenommene Neue, sowie ein anderer den ich jetzt annahm, leistet mir bei allem gutem Willen so gut wie gar keine Hilfe, so daß ich mich der Prosecturarbeit auch diessmal nicht entziehen kann, um so mehr als eine größere Anzahl von Praeparaten da ist. Da bin ich dann des Abends müde wie ein Holzhauer, und weder Lesen noch Schreiben will mir gefallen. Obgleich Gerh. mich aus der Behandlung entließ, so ist mein Zustand doch nur „gebessert“ nicht „geheilt“ und ich habe noch mit vielen abdominalen Widerwärtigkeiten zu kämpfen, die in meiner ganzen Stimmung sich reflectiren. Da träume ich denn die paar Abendstunden welche nach Erledigung des Dringendsten mir übrig sind, von Vergangenem und Zukünftigem, und lasse die Bilder meiner Lieben an mir vorüberziehen, und da tritt auch das Deinige mir vors Auge. Wie oft ist es mir als hörte ich Deine raschen Schritte auf der Treppe, als müßtest Du jetzt zur Thüre hereintreten! Ja liebster, theuerster Freund! Ich kann Dir nicht sagen wie sehr ich Dich vermisse! Ich habe es vorher gewußt wie schwer mir die Trennung wird, ich glaubte aber daß Arbeit mir einen Theil des Verlassenseins tragen helfe. Nun kann ich aber fürs erste noch an keinerlei Arbeit denken, bis mein Körper sich wieder erholt hat. Da kämpft denn der Egoismus mit den Gefühlen edlerer Art, und ich richte mich wieder an dem Gedanken auf, daß unsere Trennung in ihrem Grunde für Dich erfreulich ist. Ich begleite Dich dann im Geiste, und lausche an Deiner Seite dem Brausen des Meeres, freue mich des ewigen Wogenspiels oder schwelge bald in der tiefen Bläue des Himmels oder der glänzenden Farbenpracht tropischer Landschaft. Das alles malt sich mir die Phantasia, mein einziges noch rüstiges Vermögen, bis ins kleinste aus, und oft weckt mich aus solchen Sinnen der deutsche Novembersturm der draußen im Gezweige der Bäume saust, oder rieselndes Schneegestöber am Fenster. Schon seit ein paar Tagen sind unsere Höhen mit weißem Schleier bedeckt, und seit heute legt sich ein dichteres Schneegewand auch über das Thal. Da magst Du dich denn behaglich fühlen im warmen Sonnenschein oder im Schatten immergrünen Laubes von milden Lüften umweht. Genieße es, und laß Dir’s bekommen, wandle nur auf Lorbeeren die Du Dir reichlich verdient hast. Habe ich doch erst vorgestern einen Brief vom wackeren Carus bekommen voll freudiger Äußerungen und gestern erhalte ich auch vom M. Schultze den Ausdruck „begeisterter Freude über das ganz fundamental wichtige Buch“ Mit den Protisten bis auf Nebendinge vollkommen einverstanden. Der histolog. Theil ist ihm „ganz aus der Seele geschrieben“ Ueberall Anerkennung der reformatorischen Bestrebungen. Als „stellvertretender Freund || darf ich Dir das Alles nicht vorenthalten, wenn Du auch an solches nur denken magst wie an eine weit hinter Dir liegende Zeit. Auch die Bedenken wegen Mangels an Rücksicht auf „lebende Forscher“ soll nicht verschwiegen werden. Als ob man nur gegen die Toten rücksichtslos sein dürfte! Die haben freilich kein Recht, und, was die Hauptsache ist, sie können nicht mehr schaden! Ueber diesen Nützlichkeitsrücksichten werde ich übrigens selbst demnächst an MS. einiges schreiben.

Von unseren politischen Zustaenden wirst Du, mit Recht, nichts hören wollen. Die Verhältniße, vor einigen Monaten noch für die deutsche Nation nicht ungünstig, verschieben sich immer mehr auf die rechte Seite hinüber, wie denn auch in der preuss. Kammer die ministerielle Parthei von neuem bedeutenden Zuwachs erhielt. Von irgend einer freiheitlichen Entwicklung des neuen Staatswesens ist keine Rede. Wenn die Nat. L. sagt das Preußen in dem Fortschritte von der feudalen zur modernen Staatsverfassung allen d. St. ein Vorbild war. Daß nur noch „kleine Unvollkommenheiten“ beständen etc. so weiß man nicht ob man die Frechheit des Schreibers oder die grandiose Dummheit der Leser mehr bewundern soll. Doch genug hievon, von Dingen die nur hier bis jetzt noch nicht berühren. Ueber kurz oder lang werden wir aber doch mit ihnen in Contact, in Conflict, kommen. Ist doch, wie ich höre, in der jüngsten Senatssitzung bezüglich der Verlegung einer Garnison nach Jena ernstlich verhandelt worden, und in der That wird das Lebensfrage der Univ. werden, so daß man im Intereße des Besuchs der Univ. jener Einrichtung sich c nicht widersetzen kann. Wie weit entfernen wir uns von 2066! Doch in all‘ dieser Dunkelheit sehe ich als leuchtendes Gestirn die Unverwüstlichkeit des deutschen Volks, und will in der Zuversicht auf bessere Zeiten auch jene d Eigenthümlichkeit Jena‘s aufgeben. Bleibt doch immer noch vieles: Von der schrecklichen Seuche sind wir hier ganz verschont geblieben, nur 1 (eingeschleppter) Fall! Ringsum, in Weimar selbst jetzt noch, viele Verwüstung. Die Frequenz der Univ. hat sich im allgem. vermindert, dank bedeutendem Ausfall der Landwirthe. Die eigentlichen Facult: Stud. Haben sich dagegen vermehrt. An den süddeutschen Unis ist überall eine bedeutende Verminderung eingetreten, besonders in Heidelberg, Würzburg, und Tübingen. Bezold der mich während meiner Krankheit in W. öfters besuchte klagte mir sehr über das Ausbleiben der Norddeutschen. So machen sich auch auf einem scheinbar indifferenten Gebiete wichtige Aenderungen. Was aber auch kommen möge, uns laß unverändert bleiben in brüderlicher Treue und Freundschaft. Mit diesem Wunsche schließe ich diese Zeilen und bin mit Kuß und Gruß Dein

aufrichtig ergebener

C. G.

Grüße mir Deine Gefährten. Mikluchos Freund M. habe ich kürzlich gesprochen und habe von ihm über Mikluchos Verhältniße sehr befriedigende Mittheilungen vernommen. Es ist vielleicht gut wenn Du das weisst.

Ueber mein Töchterchen erhielt ich vor kurzem erfreuliche Nachricht. e

a Gestr.: auch; b von oben eingefügt: sehr; c von oben eingefügt: sich; d gestr.: die, von oben überschrieben: jene; e Zusatz über Kopf am oberen Rand der vierten Seite.

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
18.11.1866
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 9942
ID
9942