Bölsche, Wilhelm

Wilhelm Bölsche an Ernst Haeckel, [o.O., 1. Januar 1914]

Lieber Freund!

Herzlichste Glückwünsche zum neuen Jahr, das von Deinen tausend und tausend Freunden mit so hoher Freude als das Deines 80. Geburtstages erwartet wird. Die sonnigen Stunden von neulich in Jena wirken noch lebhaft in mir nach, und ich danke Dir noch einmal von Herzen dafür. || Die Gilbert‘sche Spottschrift über die Extravaganzen der neuesten Physik, die Du mir mitgabst, hat mir auf der Heimfahrt viel Spaß gemacht, – zumal die Stelle darin, wo die Atome als „Löcher im Nichts" definiert werden. Die große Gefahr in unserer Physik ist zweifellos die Abkehr vom Sehen, von jedem Bedürfniß nach Anschaulichkeit zu Gunsten der reinen mathematischen Formel, – wobei eben wirklich || zum Schluß jede Substanz und jedes greifbare „Etwas" verloren geht und eine Gespensterwelt von Zahlen im leeren Raum beginnt. Wie auch das doch Goethe schon geahnt hatte! Sein Exempel in der Farbenlehre mag falsch gewesen sein, aber die allgemeine Front, gegen die er kämpfte, war wirklich die gefährliche und verhängnißvolle. Das ist überhaupt für die Geschichte der Erkenntniß ein interessanter Punkt: wie einer im Detail ganz und gar unrecht || haben und doch in der großen Linie vor der Zukunft absolut das Rechte verfochten haben kann.

Mit den besten Grüßen (auf frohes Wiedersehen im Februar)

Dein

W. Bölsche

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
01.01.1914
Entstehungsort
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 9726
ID
9726