Anonym ("Eine Ihrer treuesten Anhängerinnen")

Anonym an Ernst Haeckel, London, o. D.

125 Maida Vale

London W.

Hoch geschätzer Herr Profesor

Don Ernst Haeckel.

Sie würden mir eine grosse Freude machen, wenn Sie mir diesem Brief antworteten.

Ihre Anschauung vom Leben ist durch Sie auch die meine geworden u. hängt viel von Ihrer Antwort ab, wie ich es weiter ansehen werde. –

– Wenn, was ich beinahe fürchte – für meine Zeilen Sie keine Zeit haben – bitte ich Sie inständigst sie mir zurück zu schicken – oder zu verbrennen. –

Entschuldigen Sie, wenn ich weit ausholen muß. – ||

Mein Vater stammt aus einer alt portugiesisch-jüdischen Familie. Meine Mutter kommt aus d. Interior Panamá’s, wo sie wenig Bildung genoß u. aus Meinungsverschiedenheiten – sie nach Panamá floh.

Hier lernte sie meinem Vater kennen u. verliebte sich besinnungslos in ihm. Sie, streng Katholisch erzogen, war ahnungslos in dieser Welt, sollte nun einem Kinde d. Leben schenken, dessen Vater nach Europa gereist war. Viele Spanier [und] Franzosen sollen sie damals betört haben wollen doch nicht auf den Mann zu warten, der sie nicht geehlicht hatte – jedoch war sie treu u. blieb treu. – Mein Vater kam auch zurück – u. froh einem Sohn zu haben blieb er der Frau treu.

Dann kam ich, zwei Schwestern u. Papa beichtete der Familie. Die war entsetzt – rieten ihm aber zu eine europäische Frau zu nehmen – einige sogar meine Mutter zu heiraten. Er wollte aber nicht – oder besser war schwankend.

Wir hatten es sehr gut, Pa hatte ein großes Geschäft, viel Geld – u. wir viel Spielsachen. || Außer Sticheleien der Freunde, die selbst Kinder uns nicht entgingen. Doch weil wir früh hörten, daß wir uneheliche Kinder waren – wie soviele drüben – fanden wir nichts dabei, als das die Religionen wohl das Hindernis sei. –

So wie mein Bruder 10 Jahre alt wurde, wurde er in eine jüdische Familien Pension geschickt. Als Junge konnte er bei jeglicher Beleidigung seine Hände gebrauchen. Anders ich, die ihm 3 Jahre später in derselben Pension folgte. – Die Dame hatte nur 2 Söhne; sie war äußerst beschränkt – schmutzig an Leib u. Seele – erpicht nur viel Geld u bekommen.

Dann wollte sie mich jüdisch erziehen, obgleich wir Katholisch waren. Da mir aber die Katholische Religion stets Angst u. Schrecken bedeutet hatte – wurde ihr das Umformen leicht. Doch nur zur weiteren Lügereien u. Heucheleien. Denn ich ging in einer feinen protestantischen Privatschule. Natürlich bemerkte ich die Abneigung gegen die Juden von den Mädchen sofort – sie luden mich viel ein, wohl weil ich Ausländerin – aber sie kamen nicht zu mir. Selbstverständlich hütete ich mich zu sagen Papa sei Israelit. ||

Auch mein Eckel gegen die Pensionmutter war groß. Erzählte ich von Ma so lächelte sie boshaft u. sagte nach Hause würde ich nie zurückkehren.

Etwas was mich in machtloser Wut geraten liess – denn meine Eltern erfüllten damals so ganz mein Herz.

Kamen Leute und interessierten sich für uns – weil Ausländerin – tuschelte die Dame u. wir mußten aus dem Zimmer.

3 Jahren vergingen so – mein Bruder hatte Freunde – ich blieb allein u. dachte, dachte viel. Aber gerade darum schrieb ich nach Hause ich befände mich wohl. Auch die Hoffnung meine Schwester dort zu bekommen – wischte alle ecklige Stimmungen fort. Als die kam drehte sich alles. –

Ich die Pa’s Liebling gewesen sein soll – wurde gegen ihm.

Er war ja mein Gott gewesen alles Gute hatte nur er. Da wurde mir erzählt im eigenen Hause habe er ein Dienstmädchen geherzt. Ma habe es gesehen u. es sei zu einem fürchterlichen Auft. gekommen – sie habe aus dem Hause mit Kindern fliehen || wollen – aber nur unseretwegen, unsa in Ausland – willigte sie inb die Heirat – die erst dann vollzogen wurde. –

So wurden mir die Augen gänzlich geöffnet u. ich sah seit dem Tag in meinem Vater einen Schwachen Mann. Papa merkte mein Grübeln, er wurde mißtrauisch, nervös u. reiste wieder zurück. –

Seine Familie die sich bis dahin wenig oder garnicht um uns gekümmert hatte – lud uns nun ein mit ihnen zu reisen.

Ich, gehetzt von der Dame u. selbst wütend über ihr früheres Benehmen sagte ab. Jedoch wurden wir noch einmal dringend gebeten u. ich noch nicht befestigt im Wollen sagte zu. Die Reise hatte das Gute, daß wir aus den Klauen der jüdischen Dame, zu einer streng protestantischen, aber feinen Dame – kamen. Und zwar in dieselbe Stadt, wo viele der Familie Pa’s u. wo er selbst lange lebte. Durch die Weigerung einer angeheirateten Tante || konnten wir in das Haus des ältesten Bruders meines Vaters nicht eingeführt werden, folglich weigerten sich auch andere uns aufzunehmen. –

Wir sind jedoch glücklich mit fremde Leute geworden, die wir heute auch lieber haben als die Allernächsten. – Ich reiste mit Vater u. Bruder der 10 Jahre ohne Unterbrechung in Dland gewesen war nach 7jähriger Abwesenheit nach Panamá zurück. Papa war ein düsterer Mann der sagte seine Familie habe ihm mit Füßen getreten – obgleich doch er der einzig Schuldige war. Innerlich wußte er genau wie wir, daß er auf schwankendem Boden gebaut hatte. Wir waren den Eltern auch vollkommen fremd geworden. –

Ja, ich dürstend nach Wahrheit, sagte offen meine Meinungen u. konnte meine Mutter nicht verstehen – wie sie bitterlich weinte, weil wir keine Katholiken mehr waren. || Aber bei ihr [ist] es zu verstehen, sie genoß wenig Bildung – kam wenig aus Panamá heraus. – Jedoch mein Vater, der hochgebildet war mir ein Rätsel. Wenn eine alte Tante von ihm starb, die wir nie gekannt sollten wir weinen. –

Er war oft jähzornig u. vergriff sich sogar an meinem damals 20jährigen Bruder. Ich war höchst empört u. frug ihm nur: „Du bleibst?“ Und schüttelte den Bruder, doch er sagte, „er hat sich vergessen, aber noch einmal u. ich fliehe“.

Ihre „Welträtsel“ bekam ich am selben Tag in meine Hände; das Buch berührte mich so frisch, so echt. Sie setzen alles so wahr u. richtig an. Damals war es Balsam.

Auch heute stehe ich davor aus dem Hause oder aus dem Leben zu fliehen! Doch fasse ich Vertrauen zu Ihnen, schreiben Sie mir ein Wort. –

Widernatürliches läßt mein || Verstand nicht zu – aber man könnte ihn verlieren.

Sehen Sie seit einem Jahre leben wir mit der Familie zusammen – ein grelles Flickwerk das Ganze.

Papa hat Geld u. allen Komfort genießen wir. Aber eisig kalt ist das Verhältnis zu den Eltern. Sie verstehen uns nicht – wir verstehen sie wohl. Können aber nicht verstehen wie man Heuchelei vorziehen will der Aufrichtigkeit. Dann die ungerechte Eifersucht – das wir andere Leute lieber haben. In der Zeit wo wir Liebe gebrauchten – war die Leute da u. liebevoll zu uns, das hat sich bei uns eben tief gegraben. – Ja, ich habe sie sogar besuchen dürfen u. hatte gerade herrliche Wochen in Germany überall verbracht. Kam mit frischen Sinnen nach Hause u. fällt da wieder ein solches Wort, das mich wie tausend Dolche sticht. Ist das mein Vater, der ewig einem fühlen läßt das er aus Pflicht unser Vater gewor-||den ist – obgleich man glauben sollte er hätte es aus Liebe getan; – nein doch, viel wohl auch aus Trotz.

Sehen Sie die Welt soll ja glauben wir wären von vornherein eheliche Kinder gewesen – aber im Herzen sind wir es schon lange nicht. –

Auch wird uns immer gesagt, daß wir ihm anbeten sollen für alles was für uns Er getan hat. Anbeten! Können Sie es verstehen daß ich es nicht kann? Das ich heute unabhängig sein möchte oder tot? – Sie haben mich schon oft mit Ihrer scharfen Weisheit getröstet. Sagen Sie mir nur ein Wort!

Nochmals entschuldigen Sie meine Störung – ich weiß nicht – ich hatte nur zu || Ihnen das Verlangen gefunden mich auszusprechen.

Niemand außer unserer Verwandschaft sollte diese ewig alte Geschichte kennen. –

Mit der Bitte meine Niedergeschlagenheit mit in Kauf nehmen zu wollen

verbleibe ich

Eine Ihrer treuesten

Anhängerinnen

GS.

a eingef.: uns; b eingef.: in

 

Letter metadata

Empfänger
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 9520
ID
9520