Anonym

Anonym an Ernst Haeckel, o. O., [April 1905]

Herrn Professor Häckel!

erlaube mir Folgendes zu unterbreiten.

Auf Grund Ihrer Vorträge, welche Sie in Berlin gehalten haben, gestatte ich mir Ihnen fogendes zu erwiedern:

Die Unsterblichkeit der Seele gehört nach Ihrer Wissenschaft ins Reich der Dichtung. Dies ist Alles sehr schön begründet von Ihnen, aber weder Sie noch ein anderer Gelehrter hat je davon mehr geschaut, als Ihre vagen Vermuthungen werth sind. – Warum lassen Sie der Menschheit nicht Ihren Märchenglauben? Fühlen Sie sich dazu berufen, den heutigen Menschen den letzten Trost im Unglück zu rauben, wie ihn die Religion gewährt? Soll Christus umsonst gelebt und gelitten haben? Nimmermehr! Selbst der ärgste Zweifler kommt einmal zur Erkenntniß und wenn es erst in der Todesstunde ist. Was hält den armen Menschen in Kummer und Noth aufrecht, was giebt ihm || Trost am Sarge seiner Lieben, als sein bischen Religion, die Sie ihm zerstören wollen.

Sie sind frei von Kummer und Noth, brauchen auch demnach keinen Gott. „All unser Wissen ist Stückwerk“ sagt die Schrift und Keiner, mag er noch so gelehrt sein, ist im Stande, das Leben in jener Welt aus eigner Anschauung zu schildern. Die Menschen, welche Ihnen in ihrem thörichten Wahn bei Ihren Vorträgen in Berlin zujubelten, hätten besser das viele Geld (pro Abend 1000 M.) anwenden können und viel Elend konnte damit augenblicklich gestillt werden. Dieses sogenannte Judasgeld, welches Sie erhielten, weil Sie den Herrn verrathen haben, muß Ihnen auf der Seele brennen und es hätte Ihrer Gelehrsamkeit keinen Abbruch gethan, wenn Sie Ihre Weisheit für sich behalten hätten; als die Menschen in ihrem ohnehin schon großen Unglauben noch bestärken.

„Kein Mensch ist vor seinem Tode glücklich zu preisen“ Erst in der || Todesstunde erkennt der Ungläubige, daß ein Gott lebt und eine Ewigkeit existirt trotz aller Wissenschaft.

Dies sagt ein einfacher Mann aus dem Volke dem großen Lichte der Wissenschaft

in Jena.

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
??.04.1905
Entstehungsort
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 9492
ID
9492