Müller, Fritz

Fritz Müller an Ernst Haeckel, Desterro (Brasilien), 5. November 1865

Desterro, Brazil 5 November. 65.

Geehrter Herr!

Aus Briefen von Max Schultze weiß ich, daß Sie wie ich zu den Verehrern Darwin’s und daß Sie zu den eifrigsten Vertretern seiner Lehre in Deutschland zählen. Dies ermuthigt mich, Sie zu einem Unternehmen anzuregen, das – scheint mir – für den Ausbau und die Verbreitung der Darwin’schen Ansichten wesentliche Dienste leisten könnte, und welches selbst zu beginnen schon die Entlegenheit meines Wohnorts mir verbietet, – ich meine die Begründung einer besonderen, diesem Gegenstande gewidmeten Zeitschrift. –

Selbst Thatsachen, die für die weitere Durchführung der Darwin’schen Lehre verwendbar sind, finden in zoologischen, botanischen, paläontologischen Zeitschriften u. s. w. keine recht passende Stelle, theils weil sie bei der ausschließlichen Vertiefung unserer meisten Forscher in specielle Gebiete so fast nur zur Kenntniß der betreffenden Fachmänner kommen, theils weil dadurch ihre spätere Sammlung und Verwendung erschwert wird. Noch weniger wäre die Erörterung allgemeinerer Fragen in diesen speciellen Fachjournalen an der Stelle. Zudem sind, soviel ich weiß, die Herausgeber unserer deutschen zoologischen Zeitschriften sämmtlich Gegner Darwin’s und würden einer scharfen Polemik gegen die heutige „wissenschaftliche Zoologie“, wie sie sich selbstgefällig nennt, nicht gern ihre Spalten öffnen.

Neben den Originalaufsätzen würde die Zeitschrift zu sammeln und ihren Lesern in nicht zu magerem Auszuge vorzuführen haben, was sich Einschlägiges in anderen Zeitschriften und Büchern zerstreut fände, und zwar neben dem Neuen auch Älteres (z. B. Nilsson’s Untersuchungen über die schondischen Lachsarten u. dgl. mehr). In dieser positiven Thätigkeit, dem Sammeln von Thatsachen, dem weiteren Ausbau, der specielleren Durchführung der Darwinschen Lehre würde ich die Hauptaufgabe der Zeitschrift sehen und dies zugleich für die wirksamste Propaganda halten. Daneben müßten allerdings auch Kritik und Polemik ihre Stelle finden. – ||

Im Anfange möchten Beiträge vielleicht nur spärlich, aber in Kurzem denke ich würden sie überreichlich zufließen; denn wie mir wird es wohl auch anderen Freunden Darwins gehen, daß wenn sie einmal ordentlich in seine Anschauungsweise sich eingelebt haben, sie fast bei jedem Schritte auf neue Belege für deren Richtigkeit und auf neue Anknüpfungspunkte für deren Anwendung im Einzelnen stoßena. –

Doch inwiefern überhaupt schon jetzt in Deutschland auf eine genügende Zahl tüchtiger Mitarbeiter und auf einen den Verleger befriedigenden Absatz zu rechnen sei, kann ich natürlich von meiner fernen Insel aus nicht beurtheilen. Man könnte vielleicht auch außerdeutsche Freunde Darwin’s zur Mitwirkung einladen; Englisch und Französisch liest ja heute Jedermann in Deutschland, die Theologen etwa ausgenommen, und so würde derb Aufnahme von Aufsätzen in diesen Sprachen nichts entgegenstehen. –

Louis Agassiz, der bedeutendste unserer Gegner, beutet gegenwärtig die Fischfauna des Amazonas aus; wie ich aus einem im Jornal do Commercio in Rio de Janeiro veröffentlichten Briefe desselben sehe, hofft er in der geographischen Vertheilung der Fische im Amazonas und seinen Nebenflüßen Beweise gegen die Lehre Darwin’s zu finden. Wollen’s abwarten! – Er hat in wenigen Monaten schon einige hundert

neue Arten entdeckt. –

Mit hochachtungsvollem Gruße

Ihr

Fritz Müller.

a korr. aus: kommen; b korr. aus: die

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
05.11.1865
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 9221
ID
9221