Gustav Ernst Adolph an Ernst Haeckel, Schwelm, 4. Februar 1875
Sehr geehrter Herr Professor!
Die betreffende Stelle Ihrer Anthropogenie, die ich mit dem größten Interesse gelesen, war mir bekannt; freilich hatte ich eine Andeutung jenes Verhältnisses zwischen den Zeilen nicht gefunden. Die Sache ist immerhin ebenso merkwürdig, wie wenn man bei einem Huygens auf totale Unfähigkeit für das Verständniß des Differential-Calcüls stößt, aber wenn ein Alfred Wallace, wie ich durch Professor Bora Meier in Bonn vernehme – nebenbei bemerkt, hat derselbe noch keine Fortschritte im Verständniß der Descendenz-Theorie gemacht, sondern behauptete allen Ernstes, Darwin lasse von heute bis morgen aus einem Huhn eine Gans werden – dem Schwindel des Spiritismus das Wort redet.
Möglicher Weise ist noch nicht von an anderer Seite || darauf aufmerksam gemacht, daß die Erkenntniß der Vervollkommnung des Menschen-Geschlechts durch sexuelle Auslese sich schon bei Socrates findet. In diesem Falle möchte ich mir gestatten, hinzuweisen auf Xenophon’s Memorabilien, Lib. II Cap. II. In diesem intereßanten Capitel findet sich (§ 4) folgende merkwürdige Stelle:
[Griechischer Originaltext]
Wenn Socrates hier für die angeborenen Vorzüge der Kinder den Grund in der Brautwahl ihrer Eltern findet, so ist das doch wohl in der Sprache der Gegenwart die geschlechtliche || Zuchtwahl.
In der Zeitschrift „Die Natur“ (herausgegeben von Otto Ule und Karl Müller), Jan. 75, Heft I findet sich ein Artikel über die vielbesprochenen „fleischfressenden Pflanzen“. Sollte man es glauben, daß dort im Verlauf einer recht ungahren Betrachtung Darwin von Müller als ein Verfechter teleologischer Anschauungen hingestellt wird! Das Blatt wird von Laien viel gelesen, und jener Artikel könnte immerhin das Urtheil Dieses oder Jenes verwirren.
Mit verbindlichem Dank für Ihre gefällige Auskunft bin ich in Hochachtung
Ihr
ergebenster
G. Adolph.
Schwelm, den 4. Februar
1875.