Alt, Theodor

Theodor Alt an Ernst Haeckel, Mannheim, 30. Dezember 1904

DR. THEODOR ALT

MANNHEIM.

Mannheim, 30. Dezember 1904

Hochverehrter Herr!

Nachdem ich Ihre „Lebenswunder” gelesen, wage ich es, Ihnen das anliegende oder gleichzeitig abgehende Buch „Zeus“, welches ich im vorigen Winter geschrieben habe, als ein Zeichen meiner Verehrung zu überreichen. Es ist bestimmt, das (verhältnismäßig) Bleibende in der Erscheinungen Flucht herauszulegen. Und wenn es dabei hinsichtlich der Kunst zu einem Ergeb-||nis gelangt, das die sogenannte Moderne im Ganzen abfällig kritisierta, so geschieht das aufgrund einer Weltanschauung, die eigentlich mit der Ihrigen total übereinzustimmen sich wohl rühmen darf. Es versteht sich, daß ich dabei von anderer Seite herkommen mußte, da ich nicht Naturforscher bin, sondern unter Kuno Fischer Philosophie studiert habe und meines Zeichens ein Juriste bin. Indessen war mein Vater Arzt und jeder Neuentdeckung offen, ehe er 1870 starb. Sie finden seinen Namen auf einer der ersten Seiten der Kussmaulschen Lebenserinnerungen. Obgleich ich damals erst 12 Jahre alt war, erinnere ich mich || auf’s Genaueste der Streitigkeiten, die die erste Zeit des Darwinismus hervorrief, und die den Knaben mit glühender Begeisterung für die natürliche Weltauffassung erfüllte. Nebenher begleitete mich jedoch der fortgesetzte Druck der Auseinandersetzung mit der Hegel’schen Philosophie, die mein verstorbener Onkel Koellreutter, ein Theologe, der unter K. Fischer ca. 1864 in Jena studiert hatte, anregte. Dieser Druck wurdeb für mich erst gehoben c, nachdem ich in der glänzenden Fischer’schen Darstellung auf der Universität Heidelberg den ganzen Unwert der Hegelschend Begriffsspielerei durchschaut hatte. Was aber Kant betrifft, so finde ich den Mut zu einer klaren Auseinandersetzung mit || ihm erst an Ihrer Seite und durch Ihre That. Denn es ist eine That, und nicht Ihre geringste, wie Sie ihm gegenübertraten. Das beifolgende Angebinde soll ein Zeichen meines Dankes gerade dafür sein; daß Sie Zeit finden, das Werkchen zu lesen, nehme ich deshalb durchaus nicht an.

Die Frage ist nun, auf welchem Wege dem „Monismus“ zum Siege zu verhelfen sei. Denn von ihm hängt nicht allein die fortschreitende Glückseligkeit des Menschengeschlechtes ab, sondern, was mich als Patrioten zunächste mehr interessiert, weil es näher liegt, die einzige Rettung des deutschen Volkes aus dem verfluchten Dilemma des Patriotismus und Ultramontanismus. Der Protestantismus || ist dazu vollkommen untauglich. Wenn man es nicht schon wüßte, so müßte mich darüber die Stellung selbst eines so „freisinnigen“ Theologen, wie die meines Schwagers, des Geh. Kirchenrats und Professors Bassermann in Heidelberg: ein hoffnungsloser Eiertanz zwischen den zugestandenen Ergebnissen der modernen Naturwissenschaft! Aber es gibt in meinen Augen nur einen einzigen echten Protestantismus: er heißt „Wissenschaft“, und für das Volk: Aufklärung. Nur auf diesem Wege kann Rom überwunden werden. ||

Dazu muß aber allerdings eine positive Leistung kommen. Ich meine keine Propaganda; die müssen wir durchaus ablehnen als moralisch unwürdig und zwecklos. Die stille Macht der Mißbefriedigung mit dem Bisherigenf und die beruhigende Kraft der monistischen Weltanschauung auf der andren Seite, ihre rein thatsächliche Gegenüberstellung muß und wird den Sieg davontragen. Allein es wird dieser Sieg nie gelingen, wenn die monistische Weltanschauung nicht in eine populär-praktische Form übergeführt wird, die auch das subjektiv-menschliche Religionsbedürfnis befriedigt. Ich finde dazu in Ihren „Lebenswundern“, namentlich auf der letzten Seite, die erfreulichsten Ansätze. Ich weiß || schon lange, wie tief religiös Ihr ganzes Wirken ist. Hier aber haben Sie einen versöhnlichen Ton angeschlagen von solcher Wärme, daß er eine gewaltige werbende Wirkung bestimmt ausüben wird.

Es wird indessen einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Kant auf dem Boden der Philosophie bedürfen, die im gleichen Sinne weniger schroff gehalten ist , alsg Ihre Erklärungen gegen Kanth. Es versteht sich, daß Sie mit dieseni an ihrem Platze j den allein richtigen Ton getroffen haben. Der „trockene Ton“ war hier nicht mehr angezeigt. Dennoch muß er wieder angeschlagen werden, wenn man den trockenen Menschen k beikommen will. Ich stimme sol – vielleicht! – nicht || überall mit Ihnen, hochverehrter Mann, überein, nämlichm hinsichtlich der Gestaltung der praktischen Konsequenzen des Monismus für die menschliche Gesellschaft. Wir würden, glaube ich, den eigenen Grundsatz der Entwicklung verkennen, wenn wir es für möglich halten wollten, praktisch dien Konsequenzen des Monismus an einem Punkte sogleich zu ziehen, wo eine andere Seite der Zuständeo nicht schon auchp das Gleichgewicht herstellt. Unzweifelhaft muß die Kenntnis verschiedener Psychosen auf die Anwendung des Strafgesetzes von Einfluß sein oder sollte es sein, mehr als bisher. Eine umfangreiche Bedeutung kann ich jedoch, obgleich Rechtsanwalt und nicht Richter, diesem Umstande nicht zuerkennen. Es versteht sich, daß, bei Anerkennung unserer ||

totalen Willensunfreiheit, die Strafe (jenachdem) die stärkste Determinante alles menschlichen Handelns wie der Erziehung ist und bleibtq: die zweckliche Projektion eines an sich kausalen Verhältnisses, die der denkende Verstand vollbracht und erfunden hat, weil er sie, einmal zum Bewußtsein gediehen, selbstr setzen konnte. Nur dann also konnte die Strafes in Wegfall kommen, wenn auf der Seite des Subjekts schon der Anlaß zur strafwürdigen That aufgehoben wäre. Und aus diesem Grunde wird auch die allgemein anerkanntet monistische Weltauffassung eines Strafrechtes schwerlich jemals entbehren können. Nur wird die || Bekämpfung des Alkoholismus, die Versittlichung der Menschheit u.s.w. die Anlässe zur Anwendung des Strafgesetzes vermindern. Daß das Strafgesetz selbstu jedoch in irgendv absehbarer Zeit, außer an wenigen Punkten, anders aussehen könnte, als das Strafgesetz des Deutschen Reiches, das halte ich aus dessen praktischer Kenntnis für gänzlich ausgeschlossen. Ein anderes freilich ist die Art seiner Anwendung.

Aus der Jurisprudenz holte ich mir nur ein Beispiel. Um von dieser Wissenschaft, die in Wahrheit keine ist, abzusehen, so wird doch nicht davon abgesehen werden können, an die Stelle der durch den Monismus beseitigten religiösen Vorstellungen neue Vorstellungenw wahrer Religiosität zu setzen.

Erst wenn die Aussicht hierauf der Masse und den „Oberen“ || deutlich eröffnet ist, undx wenn die Regierenden einsehen, daß mit den Kirchen weder die Religion noch die Staatsordnung, vielmehr ein gefährlicher Feind der letzteren beseitigt ist, erst dann ist auf den Sieg des Monismus zu hoffen und auf die Befreiung von der Pfaffheit. Zu denjenigen, die von der Staatsordnung befreit sein wollen, oder die Masse für regierungsfähig halten, gehöre ich allerdings nicht.

Meine Existenzbedingungen zwingen mich, die Zeit zu ähnlichen Arbeiten meinem erwählten Berufe höchst mühsam abzuringen. Dennoch hoffe ich, in nicht zu ferner Zeit einen besseren Beitrag zum Sieg des Monismus liefern zu können, als der vorliegende ist. Ohne Mängel, die auf jenen Umstand zurückzuführen sind, wird es auch dann nicht abgehen; ich bitte, sie zu entschuldigen und nicht gleich als Ignoranz betrachten zu wollen, sondern als unumgänglich gewesene Flüchtigkeiten. ||

Der Schleider der Magie, wenn auch von allen Kulturmenschen durchschaut, wird ihr doch nicht weggezogen werden können. Einesteils würden viele Menschen das nicht ertragen und um subjektive Güter betrogen werden, die als solche respektiert werden müssen, solange das Subjekt sie nicht selbst aufgibt, wie z.B. die persönliche Uebung der katholischen Religion – nicht ihre Propaganda und nicht der Ultramontanismus. Diese müssen auf’s Energischste bekämpft werden. Andernteils werden auch wir die Einsicht der absoluten Kausalität nicht für den täglichen Gebrauch des Denkens und Sprechens an die Stelle der bisherigen Form setzen können, sind vielmehr wohl an diese, als eine symbolische Abbreviatur, gebunden. Verfahren wir aber so, dann, bin ich überzeugt, werden wir praktisch das Meiste erreichen. Und, darauf kommt es doch schließlich an, wenn wir überzeugt sind, daß davon die Glückseligkeit des Daseins der Nation und der Menschheit wesentlich abhängt. ||

Verzeihen Sie mir, wenn ich zu weitschweifig gewesen bin. Verzeihen Sie mir auch, bitte, wenn das anliegende Werk an einer Stelle oder der andern Abweichungen von Ihren Ansichten in praxi zeigt. Ich weiß, daß Sie zu hoch stehen, um diese irgenden in die Wagschale fallen zu lassen gegen den fortgesetzten Ausdruck größter Hochachtung vor Ihrem Lebenswerke, den Sie in meinem Buche erblicken können. In dieser Gesinnung bin ich, mit den innigsten Wünschen für Ihr Wohlergehen,

Ihr ergebener

D. Theodor Alt

a gestr.: lehnend gegenübersteht; eingef.: fällig kritisiert; b gestr.: Der; eingef.: Dieser Druck wurde; c gestr.: wurde; d gestr.: dieser; eingef.: der Hegelschen; e gestr.: meint; eingef.: zunächst; f eingef.: mit dem bisherigen; g gestr.: was; eingef.: als; h eingef.: gegen Kant; i eingef.: mit diesen; j Einfügung unleserlich gestr.; k gestr.: irgend; l gestr.: dann; eingef.: so; m eingef.: nämlich; n eingef.: praktisch die; o eingef.: der Zustände; p eingef.: schon auch; q eingef.: und bleibt; r eingef.: selbst; s eingef.: Strafe; t eingef.: allgemein anerkannte; u gestr.: dasselbe; eingef.: das Strafgesetz selbst; v eingef.: irgend; w eingef.: Vorstellungen; x eingef.: und

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
30.12.1904
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 8744
ID
8744