Bergner, Franz

Franz Bergner an Ernst Haeckel, Zyrardow, 12. Mai 1905

Franz Bergner Bleiche Zyrardow b. Warschau 12/5.05

Sehr geehrter Herr Professor!

Einen einleitenden Schnörkel weglassend, beginne ich: Alles wird zum Gegensätzlichen; das zum Gegensatz gewordene, wird weiter anders und führt zu weiteren Gegensätzlichkeiten: so z.B. gab es nicht nichts (was unseren Gesichtskreis anbelangt) als einen kalten, finsteren Raum; diesem folgte warme Helle, als weiteren Gegensatz, folgte dann Feuer, Wasser etc etc. Dieser Raum war nie ein leerer: Leben war aber in ihm, indem er älter, somit auch anders wurde. Dieses Leben war aber ein anderes als das der bewegten rotierenden Weltkörper. Ein Pflanzenleben ist anders als das eines Weltkörpers. Ein Menschenleben ist wiederum anders als das einer Pflanze, oder eines Urthieres etc etc.

Ich vergleiche dieses Älter-Anderswerden, das zu Gegensätzlichkeiten führt, mit einer ewig wachsenden Zahl (überhaupt läßt sich alles mit einer ewig wachsenden Zahl vergleichen). Beginnt eine Zahl, so beginnt sie mit Eins, die Zahl Eins enthält alles in sich, sie ist sich selbst die kleinste u. zugleich die größte Zahl, weil außer ihr keine andere vorhanden ist. Die Zahl Zwei ist schon doppelt so groß u. s. w. Die Zahl Million, ist schon eine große Zahl u. ist schon das Gegentheil von klein: wächst aber die Zahl fort, so wird, wenn die Zahl auf Quardtrillion gestiegen ist, die Zahl Million zu einer kleinen Zahl u. ist somit als große Zahl gestorben.

Quardtrillion ist wiederum eine kleine Zahl, im Vergleich zu Decillion, Decillion zu Centillion etc etc und jede noch so große Zahl, ist im Vergleich zur Unendlichkeit ein Nichts. Wir sehen daraus, daß jede gegebene Zahl, die in einer ewig anwachsenden Zahl erscheint, zum Gegensätzlichen wird. Die Zahl Decillion ist eine große Zahl, wenn sie auftritt; aber in der ewig wachsenden Zahl, wird sie zur kleinen, zur verschwindend kleinen Zahl: zum Gegensätzlichen von dem, was sie nicht war. ||

Ob ich da nur in der Welt Kaiser, König, Millionär oder Lottler bin u. meine Freuden (Glück etc) von sog. höherer oder tieferer Art sind, so habe ich doch nichts besseres oder schlechteres als ein anderer, denn auch die scheinbar wahrsten, realsten Freuden die wir mit der Zahl Decillion belegen wollen, wird zum Gegensätzlichen.

Beobachten wir den Mond, so können wir auch an ihm das beständige Anderswerden deutlich wahrnehmen, sowie an jedem Ding überhaupt.

Er war nicht nicht u. erschien als feuriger Körper, der sich abkühlte, so daß (wahrscheinlich) Organischen entstehen u. existieren konnte. Gegenwärtig ist alles organisches Leben verschwunden; Leben ist aber in ihm, indem er beständig älter (anders) wird und schließlich ganz verschwinden muß. Das Mondmaterial ist dann jedoch nicht verloren, sondern nur anders geworden; es befindet sich, nach wie vor im Weltraum. Ich las einmal eine Mondbeschreibung worin gesagt wurde, daß er (der Mond) einen großen Riss zeigt u. daß man die Ursache des Risses nicht kennt. Mir scheint die Ursache des Risses ganz naheliegend. Bedenkt man, daß alle Körper sich beim erwärmen ausdehnen u. beim erkalten zusammenziehen, so hat man die Zerstörungsarbeit deutlich vor Augen. Man stelle sich vor, wie ungeheuer groß die Erwärmung der Bodenfläche sein muß, wo die Sonne durch nichts behindert, mit ungebrochenen Strahlen darauf scheinen kann: wie groß muß da die Ausdehnung der beschienenen Mondfläche sein. Nun folgt aber wieder die sehr lange äußerst kalte Nacht, die die Oberfläche wieder zusammen ziehen will, es aber nicht sogleich kann, indem die tieferliegenden erwärmten Schichten nicht so bald abgekühlt sind u. in Folge dessen mit der Oberfläche nicht Schritt halten können u. daher sprengend wirken müssen. Nach dieser Annahme, müßte dieser Riss dort begonnen haben, wo die Sonnenstrahlen am senkrechtesten fallen, d. h. wenn dort auch die geeignete Bodenfläche vorhanden ist; dann wäre dort zufällig ein Sandmeer vorhanden, so hätte Wärme u. Kälte dort einen weniger günstigen Angriffspunkt u. müßten dieselben an geeigneterer Stelle eingesetzt haben. Der anscheinend konservirende Sand kann dann das versäumte später nachholen, indem er in den nahegerückten Riss hineinrieseln u. spaltend wirken kann. || Dem Hauptriss müssen Nebenrisse u. s. w. folgen, bis schließlich die gänzlich zertrümmerte haltlose Masse auseinanderfällt, in kosmischen Staub sich auflöst a und unverdaute Brocken in der Bahn eines Weltkörpers gelangen, von diesen aufgenommen werden, zur weiteren Verdauung. Wahrscheinlich sind Kometen auf solche Weise zerfallene Weltkörper, die infolge ihrer losen Theile u. großen Ausdehnung ganz neue, von früher verschiedene Bahnen gehen u. mit der Zeit überall an vorüberstreichenden Weltkörpern Theile abgebend allmählig verschwinden.

Da wir wissen, daß Alles beständig älter, anders wird, anders werden muß; so wissen wir auch, daß der Mond, oder ein anderer Körper nicht das bleibt, was er gegenwärtig ist; er muß also anders werden, verschwinden u. wenn wir gleich nicht wüßten wie u. auf welche Weise er zugrunde gehen, verschwinden muß. Und geht er zu Grunde, so muß eine erkennbareb Ursache vorhanden sein, die das bewirkt. erkennbar sind die Ursachen immer und überall; sie liegen in der Natur so angeordnet, wie jede einzelne Zahlenstelle in einer fortlaufenden Zahlenreihe. Zeit u. Raum sind das Leben; aus ihnen müßte man erkennen, wieviel Zeit es bedurfte, um diese Welt wie sie gegenwärtig ist, hervorzubringen u. wieviel Zeit es weiter bedarf bis zur vollkommenen Wiederauflösung: Wir müßten erkennen, wieviel Zeit es bedurfte bis aus Zeit u. Raum etwas für menschliche Sinne wahrnehmbares sich entwickelt hatte; aus was es bestand etc etc wir müßten den Unterschied der Zeitabschnitte von Millionen zu millionen Jahren Zeitlängen, erkennen: wie der erste, der zweite, dritte u. s. w. aussah, was er war etc etc.

Ein Ding, das durch der Zeit geht, ist immer Ding, aber es nimmt verschiedene Eigenschaften, Gestalten etc an; es wird immer älter, anders, so daß wir sagen könnten, wir sind von Ewigkeit, oder auch: Alles ist von Ewigkeit her und ist in alle Ewigkeit, nur ist oder wird es immer anders.

Die Menschen sind gegenwärtig Menschen; würden wir sie von Tag zu Tag in der Vergangenheit zurückverfolgen u. vergleichen, so würden wir von Tag zu Tag nicht sagen können, sie sehen u. sind jetzt anders als den c Tag vorher; wir würden, wenn wir uns das gesehene nicht einprägen, nicht merken würden u. nicht zum wiedervergleichen vor Augen hätten, schließlich zum formlosen Klumpen woraus er doch ganz bestimmt entstand, anlagen, ohne gewahr zu werden, daß das ein ganz anderes Ding ist. Nur in größeren Zeitabschnitten können wir durch Vergleichung das Anderssein unterscheiden. Vom gegebenen Apfel, der gut, schön, frisch, wohlriechend, genießbar etc ist, kann ich mit jeden verlaufenden Moment sagen; er ist das nicht mehr was er gewesen ist, er ist anders als vorher, trotzdem ich es nicht unterscheiden kann. Der Unterschied wird erst nach einem längerem Zeitabschnitt wahrnehmbar.d

Wir finden die Ursache in den Gegensätzen Warm und Kalt. Diese Beiden (Wärme u. Kälte) können mit vollster Kraft den ungeschützten, vom Luftkleid entblößten Mond zu Leibe gehen. Ob nicht die enorme Sonnenwärme und die darauffolgende ebenso große Kälte, das einen Temperaturunterschied von einigen huntert [!] Grad ausmacht, den auf dem Mond vorhandenen Sand u. Staub, zu allerfeinsten Staub-Atome, Weltäther zerlegt? Ich komme da gelegentlich zu einer sonderbaren Idee.

Wenn sich alle Weltkörper auf diese Weise wieder auflösen wie hier vom Mond gesagt ist, so würden wahrscheinlich stets solche Bruchstücke in größeren oder kleineren Brocken übrig bleiben u. früher oder später einmal nach ixtillionen Jahren auf einen andern Weltkörper gelangen, welche eine feste Struktur haben. Wenn wir nun auf jeden Welttheil einen Würfel aus Eisen von mehreren [Quadrat Hoch 3] oder anders geformtes Stück welches als etwas Gemachtes leicht erkannt werden kann, aufstellen oder eingraben würden u. es möglichst lange vor Witterungseinflüßen schützen würden, um es möglichst lang im guten Zustande zu erhalten, so könnten diese Stücke im Innern mit Dokumenten, Himmelskarten etc. versehen, einmal zufällig auf einen Welt-||körper gelangen, wo es dann von Erdenbewohner gefunden werden kann. Es wäre das einer Flaschenpost ähnlich u. für die Finder von ungeheuren Interesse d. h. wenn sie mit Vernunft begabt wären u. den Inhalt entziffern könnten.

Das ideale Luftschiff habe ich in der Vorstellung vollkommen fertig, weiß aber nicht, wohin, um es in’s sichtbare übersetzen zu können.

Hochachtungsvoll

Bergner

a gestr.: oder; b eingef.: erkennbare; c gestr.: d; d Text auf Seite 4 nachträglich mit Einfügungszeichen eingefügt, mit rotem Stift geschrieben: erkennbar sind … Zeitabschnitt wahrnehmbar; e gestr.: zu

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
12.05.1905
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 7437
ID
7437