Schultze, Fritz

Fritz Schultze an Ernst Haeckel, 2. November 1877

Dresden, den 2. Nov. 1877.

Leubnitzerstr. 20I.

Mein hochverehrter Freund!

Erst heute komme ich dazu, Ihren lieben Brief vom 15. Oct. zu beantworten und Ihnen meinen Dank für die Uebersendung Ihrer Münchener Rede auszusprechen, die ich übrigens natürlich schon längst a gelesen hatte. Auch hier hatte Ihr Duell mit Virchow die Geister in Bewegung gesetzt, und da dieselben hier ziemlich eng sind, selbstverständlich nicht wenige auf Virchows Seite gebracht. Da galt es nun vor allen Dingen, den richtigen Thatbestand hier bei jeder Gelegenheit || festzustellen, und ich muß sagen, daß besonders Töpler und ich diese Aufgabe mit einigem Erfolg gelöst haben. Wir gebrauchten dabei die sehr einfache Taktik, die Gegner aufs Gewissen zu fragen, ob sie denn je etwas von Darwin oder von Ihnen im Original gelesen hätten, und da stellte es sich fast immer heraus, daß sie nur nach gehässigen Zeitungsartikeln oder nach Hörensagen urtheilten. Wir verordneten dann stets die Lectüre der Schöpfungsgeschichte, ehe wir uns wieder sprechen wollten; und so geschah es, daß jetzt eine Reihe von Personen Ihre Bücher studiren, die sie sonst nicht gelesen hätten, und sicherb als andere auf der letzten Seite wieder emportauchen werdenc als sie auf der ersten Seite hineintauchten. Auch || gegen Virchow hatten wir in dem particularistischen Sachsen leichtes Spiel. Wir sind überzeugt, daß Virchow nur die Trompete ist, durch welche der reactionäre Wind bläst, der sich in Berlin überhaupt anfängt zu erheben und z. B. in religiösen Vorgängen und besonders in Unterrichtsangelegenheiten bemerkbar macht. Nun ist aber der Sachsed auf seine Unterrichtswesen stolz und kann es sein. Wenn man ihm sagt, von Berlin her könne jener Wind auch leicht nach Sachsen hineinblasen, so wird das alte Großmachtsgefühl in ihm rege – und er denkt dann antipreußisch und damit auch antivirchowsch – wir haben nicht verfehlt, auch diesen an sich eigenthümlichen, aber den Verhältnissen entsprossenen Gedankenhebel mit Erfolg in Bewegung zu setzen.||

Heute hat man sich längst über die Sache beruhigt und bei allen, die nicht an der Schleppe des Herrn Geheimen Raths zu Berlin tragen, wird auch der sehr richtig urtheilende K. G. (Karl Göring? in Leipzig, Privatdocent der Philosophie) – Artikel (Erinnerungen an die Münchener Versammlung e in der Allgemeinen Zeitung) seine Wirkung nicht verfehlt haben.

Sie fragen mich, ob ich nicht Lust hätte, die Redaction für Philosophie am „Kosmos“ zu übernehmen. Ich habe so viel zu thun, daß ich gar nicht daran denken könnte, selbst wenn ich Lust dazu hätte. In diesem Semester und im nächsten habe ich zwei ganz neue Collegien (Geschichte der Pädagogik in diesem, und systematische Pädagogik im nächsten) ab ovo auszuarbeiten, || dazu noch von Neujahr an die Leitung eines pädagogischen Seminars zu übernehmen. Ich kann das nicht umgehen, weil ich schon bei meiner Berufung dazu verpflichtet bin, und übernehme die Aufgabe auch gern, da sie mich einerseits sehr interessirt, andrerseits aber auch eine bedeutende Gehaltsaufbesserung damit verbunden ist. Dazu liegt mir vor allem am Herzen, an meiner Philosophie der Naturwissenschaft zu arbeiten und das Werk endlich zum Abschluß zu bringen, was durch diese pädagogischen Arbeiten so wie so um ein Jahr mindestens verzögert wird. Dann glaube ich aber zum Redacteur auch nicht zu passen. Da müßte ich eine Unzahl von Briefen schreiben, und || in vieler Beziehung, ich möchte fast sagen, Kaufmännischen Eifer und Routine entwickeln, die mir ganz abgehen. Also muß man Caspary, so schlimm es ist, die Sache überlassen, falls sich nicht ein anderer passender Mann dazu findet.

Meine durch 4 Hefte des Kosmos hindurchlaufende Abhandlung „über das Verhältniß der griechischen Naturphilosophie zur modernen Naturwissenschaft“ werde ich Ihnen zusenden, sobald sie vollständig erschienen ist.

Besten Dank für Ihre freundlichen Glückwünsche zur Vaterschaft. Mutter und Tochter befinden sich sehr wohl, und die erstere läßt sich Ihnen und Ihrer Frau Gemahlin bestens empfehlen. Indem ich mich diesen Grüßen anschließe, bleibe ich für immer der Ihrige

Fritz Schultze.

a gestr.: am; b eingef.: sicher, gestr.: sich; c eingef.: werden; d korr. aus: Sachsen; e gestr.: seine Wirku

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
02.11.1877
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 53984
ID
53984