Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Marie Eugenie delle Grazie, Jena, 26. September 1906

Jena 26. Septb. 1906.

Hochverehrte Freundin!

Nach der Rückkehr von Bad Wildungen, wo ich eine fünfwöchentliche Trink- und Bade-Kur durchgemacht habe, fand ich hier die Postkarte vor, auf der Sie und unser verehrter Freund Müllner mich einladen, Ihnen einen Besuch in der grünen Steiermark abzustatten. Sehr gern würde ich dieser wiederholten freundlichen Einladung Folge geleistet haben; auch hatte ich bereits einen Plan entworfen, diesen Ausflug mit einem Besuche von Tyrol zu verbinden, wohin mich liebe Freunde aus Triest eingeladen hatten. ||

Allein der leidende Zustand meiner Frau, die mich nach Wildungen begleitet hatte, sowie andere Familien-Verhältnisse, nöthigten mich, jenen schönen alpinen Plan aufzugeben und direct nach Jena zurückzukehren. Erleichtert wurde dieser Entschluß durch das schauderhaft kalte Regenwetter, das seit 14 Tagen mehr den Character des November als des September trägt. Wir heizen bereits wie im Winter. Heute las ich in der Zeitung, daß es bei Ihnen in Wien auch nicht besser ist, und die Triester Freunde schrieben mir gestern aus Gossensass, daß sie seit 14 Tagen im Schnee steckten u. nicht eine einzige Excursion haben machen können. ||

Meine Wildunger Kur ist mir übrigens gut bekommen und hat meine Gesundheit, die seit einem Jahre viel zu wünschen übrigließ, gebessert. Aber die alte Arbeitskraft und Unternehmungslust scheint nicht wiederzukehren. Auch spüre ich an der Abnahme des Gedächtnisses und dem Mangel an Receptivität sehr deutlich, daß ich die ominoesen 70 seit 2 Jahren überschritten habe. Die Vorlesungen habe ich größtenteils aufgegeben.

Die beifolgende Streitschrift gegen den Russischen Physiker Chwolson war mira geradezu durch dessen maaßlose Angriffe aufgezwungen worden. Im Übrigen habe ich auf die Teilnahme an der schwierigen Organisation des Monistenbundes und seiner activen Tätigkeit verzichtet. ||

Hoffentlich geht es Ihnen und unserem verehrten Freunde Müllner recht gut, und sind Sie mit Ihrer schönen Sommerfrische in Steiermark recht zufrieden geblieben.

Im nächsten Jahre Sie Beide noch einmal wiederzusehen, sei es in Wien, sei es in den Alpen, halte ich die Hoffnung fest.

Mit besten Grüßen an Sie und an Professor Müllner

Ihr alter

Ernst Haeckel.

a eingef.: war mir

 

Letter metadata

Verfasser
Datierung
26.09.1906
Entstehungsort
Besitzende Institution
Wienbibliothek, NL Marie Eugenie Delle Grazie
Signatur
H.I.N. 91102
ID
52706