Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Marie Eugenie delle Grazie, Jena, 18. Juli 1906

Zoologisches Institut

der Universität Jena.

Jena 18. Juli 1906.

Liebe und hochverehrte Freundin!

Empfangen Sie meinen herzlichsten Dank für Ihren lieben Brief und für die freundliche Zusendung Ihrer beiden neuesten dramatischen Dichtungen: „Narren der Liebe“ und „Ver Sacrum“ (‒ letzteres mit dem Wiener Exemplar ausgetauscht ‒). Ich habe Beide mit großem Interesse gelesen und dabei auf’s Neue Ihr glänzendes poetisches Talent bewundert. Auch die Gesammt-Ausgabe Ihrer Werke habe ich durch Herrn Dr. Oscar von Hase erhalten. Ich wünsche von Herzen, daß Ihnen Ihre seltene Schaffenskraft noch recht lange erhalten bleibt und uns noch viele schöne und herzerfreuende Gaben Ihres reichen Geistes gewährt. ||

Jetzt genießen Sie hoffentlich eine recht erquickende Sommerfrische in der schönen grünen Steiermark. Ich hätte große Lust, Ihrer freundlichen Einladung zu folgen und Sie dort im August zu besuchen. Aber ich muß bei meinen Reiseplänen jetzt immer mit den unverhofften „Querstrichen“ rechnen, die mir das unliebenswürdige „Schicksal“ in den Weg legt.

Ein solcher ist vor 3 Tagen plötzlich in Gestalt eines heftigen Rheumatismus erschienen, der mein rechtes Knie-Gelenk befallen hat und mir das Gehen unmöglich macht. Dieser alte böse Feind hat mir schon oft meine Reisepläne zerstört, und so heißt es jetzt: „Ruhe und Geduld“! ||

Sollte ich noch die beabsichtigte Ferienreise nach Tyrol und Steiermark ausführen können, so werde ich wegen meines Besuches bei Ihnen anfragen.

Nachdem ich den ganzen Winter mit meiner Gesundheit unzufrieden sein mußte, und bald das Herz, bald das Nervensystem rebellisch war, konnte ich im letzten Vierteljahr mich wieder in alter Frische des herrlichen Frühlings freuen. Aber mit 72 Jahren muß man immer mißtrauisch gegen die nächste Zukunft sein. Meine wissenschaftlichen Lebensaufgaben sehe ich in der Hauptsache als abgeschlossen an. Die wenige freie Zeit, die mir die unermeßliche Correspondenz läßt, verwende ich auf malerische Liebhabereien. ||

Mit dem Monistenbunde habe ich viel Zeit verloren, obgleich in von vornherein erklärt habe, mich jeder activen Mitwirkung enthalten zu müssen. Es drängen sich bei solchen neuen und weitaussehenden Unternehmungen immer eine Menge unbrauchbarer und unwillkommener Hülfskräfte herbei. Trotzdem hoffe ich für die Zukunft das Beste!

Mit den herzlichsten Grüßen und besten Wünschen für Sie und für unseren Freund Prof. Müllner

Ihr treu ergebener

Ernst Haeckel.

P.S. Haben Sie meine „Wanderbilder“ erhalten?

 

Letter metadata

Verfasser
Datierung
18.07.1906
Entstehungsort
Entstehungsland
Zielort
Groß-Reifling
Besitzende Institution
Wienbibliothek, NL Marie Eugenie Delle Grazie
Signatur
H.I.N. 91101
ID
52705