Sehte, Emma Henriette Bertha Sophie

Bertha Sethe an Ernst Haeckel, Berlin, 30. November 1859

Berlin 30/11 59.

Mein lieber Ernst!

Über meinem Schreiben an Dich scheint ein ganz besondrer Unstern zu walten, doch will ich mit dem Herzählen der Schwierigkeiten usw. nicht den mir so schon knapp gemessenen Raum und Zeit hinlängen. Ich freue mich von ganzer Seele all des Schönen und Herrlichen was Du auf Deiner Reise genießt, wo so Natur und Kunst Hand in Hand gehn, dazu die Wissenschaft sich noch gesellt, da kann es ja nur ein gewaltiger, ein voller Eindruck [sein], der für Zeit und Ewigkeit sich der Seele bemächtigt.

Und wird es doch auch Dir sein, und muß es sein, bei so lebendigem vollem Gefühl für Alles, was sich Dir bietet. Es ist doch eine große Lücke, für den der sich nicht in seinem Leben gibt, es ist da noch viel schwerer von sich selbst loszukommen. Ich habe das in gewissem Maaße voll und wahr bei meinem Aufenthalte in Potsdam empfunden, was doch diese Reise oder vielmehr dieser Ausflug, eine nicht mehr gehoffte Freude, der ich schon ganz entsagt || hatte; es war ein voller warmer Hauch, der mich aus Gottes feiner Natur anhauchte, ich wurde mir dessen, was Leben ist, in einem ganz andern und hohen Sinne bewußt. ‒

Ich habe diesen Winter über Marie aus Potsdam bei mir, was mir eine große Freude, sie ist klug und lebendig, und für Alles Edle und Große tief empfindend, das ist doch etwas köstliches, wenn uns das so sichtlich entgegentritt! ‒ Mit Theodor leben wir auch recht gemüthlich und nett zusammen, wir lesen jetzt die Reise des Grafen Görtz zusammen, die uns sehr anzieht und fesselt, und müssen dabei so oft an Dich denken, wie auch Du jetzt umherschwärst, und im Vollgenuß alles Schönen und Herrlichen lebst. ‒ Aus Bonn haben wie eigentlich recht gute Nachrichten, das Kleine scheint auf Maries Zustand einen bedeutenden Einfluß a auszuüben. Wilhelm arbeitet fleißig für den Gouverneur, mit dem er wahrscheinlich wohl im Januar oder Februar nach der Capstadt zurückkehren wird, doch ist darüber noch nichts fest be-||stimmt. ‒ Philipp schwimmt auf dem Meer, wo er in Buenos Aires anfangen wird, ist noch ungewiß. ‒ Deiner Mutter geht es noch immer nicht gut; Quinke versichert mich aber immer, daß es so wie es jetzt sei nichts Bedenkliches wäre; er glaubt, wenn sie täglich noch ein Mal wird gebraucht haben, soll es gut mit ihr sein. ‒ Du weißt ja, daß ihre Stimmung immer sehr abhängig von ihrem körperlichen Befinden ist, und so hat wohl Deine Anna, es nicht leicht in mancher Beziehung mit ihr. Hermine ist jetzt zu ihrer Hilfe dort, es ist der Mutter aber so schwer beizukommen. Ich glaube immer, wenn sie ihren Ernst erst wieder hier hat, dann wird das sie elektrisiren. Ich sehe sie ja leider sehr wenig, was mir sehr schmerzlich ist; Quinke will aber, daß ich mich diesen Winter noch ganz b so halte, wie sonst, und das sind das nur immer seltene Ausnahmen gewesen, wenn ich zur Mutter mich hinauftragen lassen durfte. Alles ist ja jetzt für mich neu, und ich habe immer recht mit mir zu kämpfen, daß ich mich nicht gar zu sehr an meine Geschwister „anknüpfen“ lasse. Als ich zuerst wieder in Eure Wohnung kam, wie mächtig er-||griff mich da Alles! was lag nicht Alles dazwischen, in der Zeit, die nun hinter mir liegt. Mir steht immer die Vergangenheit so lebendig vor der Seele, daß ich tüchtig an mir zu arbeiten habe, um mich in die Gegenwart hineinzuleben, ich fühle nur c zu gut, daß ich fremd darin geworden bin, und es alles anders geworden ist, und doch muß ich mich ihm anpassen, wenn ich überhaupt noch „leben“ will!

Deine Anna quält sich wieder mit Blutgeschwüren, ich habe sie länger nicht gesehen, ich denke, wenn sie erst wieder darüber ist, wird es wieder anders werden. Ich weiß es, daß sie auch danach verlangt, und das ist schon viel werth. ‒ Was hast Du denn zu Siegfried Reimers Verlobung gesagt? am 11ten wird wohl die Hochzeit sein. ‒ In Potsdam geht es Allen gut. ‒ Ernst Naumann, ist gestern Abend nach Aachen abgereist, wo er in das dortige 28te Regiment eintreten wird, nach einigen Monaten entscheidet es sich erst, ob sie ihn dort annehmen werden. ‒ Es grüßt Dich von ganzem Herzen Deine alte Bertha, in der Eckstube.

a gestr.: zu; b gestr.: als; c gestr.: daß ich ganz

 

Letter metadata

Datierung
30.11.1859
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 48404
ID
48404