Call, Roman von

Roman von Call an Ernst Haeckel, Würzburg, 14. März 1856

Würzburg 14.3.56. Abends 5 ¾.

im Lesezimmer der Harmonie-Silentur

Hochgeehrter Herr Assistent!

Da ich heute früh 8 Uhr die staatlich schmutzige Hausflur des Juliusspitales betrat, war der Thürsteher mit der Anheftung folgendes höchstwichtigen Acktenstückes beschäftigt:

Bekanntmachung.

Mit dem Ablaufe gegenwärtigen Monats wird die Funktion eines Assistenten an der path. anatom. Anstalt hiesiger Hochschule erledigt, und soll dieselbe auf die Dauer eines Jahres vom Beginn des nächsten Sommersemesters resp. vom 1 April laufenden Jahres an, wieder besetzt werden.

Mit dieser Funktion ist ein Renumerationsbeitrag von 150 fl. per Jahr verbunden und können

sich um dieselbe sowohl Inländische als Ausländer der hiesigen Universität bewerben, welche bereits eine Studienzeit von 5 Semestern zurückgelegt haben etc. Endlich wird noch bemerkt, daß die Aspiranten sehr bald die Zeugniße einsenden sollen und sich einer theoret. u. praktischen Prüfung a zu unterziehen haben.

Lieber Ernst! Die Prognose ist unter diesen Umständen als sehr zweifelhaft zu stellen; Deine enhrenwerthen Eltern werden ihr liebes schlankes Söhnchen sehr ungern wieder ein Jahr vermissen; auch der Hr. Doctor wird von dem Glanze und || Schimmer der Metropole der Intelligenz geblendet, mit Verachtung, auf das barbarische und unter O° R. der feinen Bildung stehende Würzburg herabsehen − − . es gibt aber nur einen Virchow, und der wird in Würzburg bleiben. Für ganz unnöthig erachte ich es, Dir alle die Vortheile auseinanderzusetzen, die mit dieser Stelle verbunden sind; ich erwarte zuversichtlich, daß Deine einsichtsvollen Eltern Deinem Plane die b unbedingteste Zustimmung ertheilen werden. Ich freue mich gottvoll darauf! Willst Du während der Herbstferien die Heimath besuchen, so will ich Dich 3-4 Wochen ablösen. Also nochmals lieber Ernst, benütze diese ungemein fruchtbringende Gelegenheit, und kehre wieder ein mit Sang und Klang in Würzburgs freundliche Löcher.

Den Tag nach Deiner Abreise sandte ich einen von Berlin gekommenen Brief retour, sowie auch die Pflanzen auf der Güterexpedition zur Weiterbeförderung. − . Horribile dictu – die schöne obere Spitalpromenade bis zum Monument wurde unbarmherziger Weise verwüstet, indem alle Bäume binnen 2 Tagen gewaltsamen äußern Eingriffen unterliegen mußten. ||

Virchow hielt die letzte Woche noch Curs und Collegyum [!]. Anfangs dieser Woche waren Examina und zwar theoretische; von 11 Examinanden bekamen 9 sage 9 sehr heftigen Durchfall. Du machst Dir keinen Begriff, welche Proben vonc Unwissenheit die bairischen Mediziner an den Tag legten; z. B. wich ich selbst hörte: Placenta und Gebärmutter sei dasselbe – die Aorta entspringt aus dem rechten Vorhof – die Arteria pulmonalis aus dem linken – die Art. brachialis aus der Art. vertebralis u. vielerlei dummes Zeug − .−. Bei Jäger nahm ich den chirurg. diagnostischen – bei Schmidtd den syphilitischen – bei Dehler den Verbandcurs. − . Außerdem gibt Dr. Schmidt einen geburtshilflichene Operat.curs – Dr. Friedreich u. Dr. Koch einen Percussion u. Auscultationscurs. − . Vergangenen Sonntag war Prof. Lehmann aus Leipzig einen Vormittag anwesend. − . Medizinische Klinik wird fortwährend gehalten, Interessantes gibt es wenig; Pneumothorax. − . Die Sekzion desselben an Lungentuberculose und Morbus Brightii Verstorbenen ergab außer nur unbedeutenden Veränderungen in den Nieren ganz hübsche Formen von Tuberculose der Lungen complicirt mit chron. Broncho-Pneumonie.

Heute war die Seczion einer Typhösen; beinahe wallnußgroße Brandschorfe fanden sich auf den Geschwüren adhärirend. − − Morgen wird die || Autopsie eines Irren abgehalten, dem beide Unterschenkel amputirt wurden; die Leiche ist sehr intensiv gelb gefärbt. Vergangene Wochen hatten wir zwei chirurgische Necropsien; Wunden nehmen jetzt gerne eine difteritischen Charackter an. − .

Virchows Archiv neuestes Heft liegt auf. – Grohé u. Bohner grüßen Dich freundlich. − . Nachmittag wird meist bei Virchow mikroscopirt; zugegen sind meist Caladium seguinum, Dr. Rossier (vor 8 Tagen promovirt) und Dr. Bohner; letztere macht jetzt Entzündungsversuche mit Schwimmhäuten von Fröschen. –

Die Assistentenstelle der Poliklinik und des Gebärhauses (Dr. Langheinrich), jedef 300 fl. jährlich, sind ebenfalls zu vergeben. − . Virchow wird bald nach Berlin gehen. −. In nicht gar langer Zeit wird ein Aufsatz von ihm erscheinen über das Eierstocks-celloid. − . Dein werther Patient bekam ziemlich starke Auftreibung des Unterleibs, und wurde in ein anderes Zimmer transferirt.

Seit einigen Tagen haben wir furchtbar kalte und windige Witterung. − . Seit einigen Tagen hört man hie und da nicht das Beste über die weiland hiesigen Berliner-Studenten sprechen; morgen reißt H. Crieger fort nach Berlin; hüte Dich vor diesem Menschen; er || g

Die Metropole der Intelligenz (???) und der pommerschen Krautjunker, sowie der Gelehrten des Kladeradatsch! Schöne Geschichten! Hinkeldeӱ erschossen im Duell! Diese Nachricht hat überall einen großartigen Eindruck gemacht! Virchow sagte bei der Leczion heute: Ihn ärgere nur das schmähliche Benehmen des Präsidenten des Herrenhaußes – weiter: jetzt zerfleischen sich die löblichen Staatsbeamten – wieder ein großes Thier, Geheimrath von Raumer habe sich selbst entleibt! – Schöne Geschichten – O Neupreußen!

Mein jetziges Quartier habe ich gekündet; h bis jetzt aber kein neues genommen; bis Ende März logiere ich im Alten; u. später adresse die Briefe ins Juliusspital. – Von dem neuen Professor der Chirurgie hört man jetzt kein Wort. − . Das Porträt Joh. Müller habe ich eingerahmt zu mir genommen. − . Deine Hausleute, die ich heute besuchte, hatten nichts zu berichtigen. || i

Die Fahrt nach Leipzig mag nicht unangenehm gewesen sein. − .

Nun lieber Ernst! Eine Klage habe ich zu führen, daß ich Dich nicht an meiner Seite sehe; nur zu oft möchte ich über ein Thema sprechen; da erst fühle ich den Verlust, den ich durch Deine Abreise erlitten. Deßhalb bitte ich Dich dringendst, mich recht bald mit Deiner Ankunft zu erfreuen; gerne will ich die 3 - 4 Tage lang beimj Ein- oder Auspacken behülflichk sein. − .

Schwärmst Du noch oft von den Alpenländern? Besuchst Du fleißig das Opernhaus, Krollsche Etablissement etc. – Welche Eindrücke empfängst Du auf den Kliniken zu Leipzig und Halle.

Deinen ehrenwerthen Eltern entrichte e Empfehlungen von mir obwohl unbekannterweise.

Nihil aliud novi − .

Leben Sie wohl, H. Doctor, Assistent mit einem jährlichen Gehalte von 150 fl. und behalten Sie in freundlicher Erinnerung

den

tuberculösen Longus.

Schreibe mir sogleich.

a irrtümlich: sich; b gestr.: vollste c eingef.: Proben von; d korr. aus: Dehl; e eingef.: geburt; f korr. aus.: jedes; g Textverlust durch Abschneiden; h gestr.: doch i Textverlust durch Abschneiden; j eingef.: beim; k korr. aus: helf; l gestr.: meine

H: Archiv des EHH in Jena. Egh. Brief, 3 Bl., 6 S., 13,8 x 21,7 cm. D: ungedruckt.

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
14.03.1856
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 4795
ID
4795