Haeckel, Ernst

Missiv des Prodekans der philosophischen Fakultät, Ernst Haeckel, Jena, 7. März 1874

Senior venerande!

Assessores gravissimi!

Herr Hermann Ludwig Stier, Oberlehrer an der Realschule I. Ordnung zu Chemnitz, bewirbt sich um die Promotion in absentia. Derselbe ist 1835 zu Plauen geboren (also jetzt 38 ½ Jahre alt), hat von 1850-1854 das Seminar daselbst besucht und 1856 laut beifolgendem Zeugniß die „Wahlfähigkeits-Prüfung“ mit der Note „vorzüglich b“ bestanden. Nachdem derselbe darauf zum zuständigen Lehrer an der höheren Bürgerschule in Chemnitz designirt war, hat er am 22. Juni 1859 eine zweite Prüfung vor dem evangelischen Landes-Consistorium in Dresden laut beiliegendem Zeugniß mit der Note „Gut“ bestanden. Sodann ist 1861 an der Realschule I. Ordnung zu Chemnitz als Lehrer angestellt und ist ihm 1863 an derselben Anstalt eine ständige Oberlehrerstelle und das Ordinariat der dritten Classe übertragen worden. Drei besondere Zeugnisse, welche den Acten beiliegen (aus den Jahren 60, 63 und 74) spenden seiner Lehrthätigkeit und seinem sonstigen Verhalten das höchste Lob. ||

Nun bin ich allerdings der Ansicht, daß weder die jüngst absolvirte „Wahlfähigkeits-Prüfung“ noch die später vor dem Landes-Consistorium in Dresden bestandene Lehrer-Prüfung (über deren Umfang in dem Zeugniß nichts Näheres gesagt ist) streng genommen als „wissenschaftliche Staatsprüfung“ im Sinne des § 8 II unserer „Bedingungen“ zu betrachten ist. Ich schrieb daher dem Candidaten, daß er daraufhin zur Promotion in praesentia berechtigt sei. Hierauf antwortet derselbe in beifolgendem Schreiben vom 5. März, daß er in diesem Falle sein Gesuch zurückziehe, beruft sich aber gleichzeitig auf den Praecedenz-Fall seines Collegen Zimmermann, der ganz denselben Bildungsgang mit denselben Prüfungen durchgemacht hat und daraufhin am 12. März 1871 von unserer Facultät in absentia promovirt worden ist.

Aufgrund dieses Praecedenz-Falles, dessen Acten ich Ihnen beilege, dürfte nun allerdings die Bewerbung des Candidaten um die Absenz-Promotion von unserer Facultät nicht mehr zurückgewiesen werden können, um so mehr, als seine sämmtlichen übrigen Zeugnisse (sowohl über seine langjährige Lehrthätigkeit wie über sein Privatleben) vorzüglich anerkennend lauten.

Jena den 7. März 1874

Haeckel

d. Z. Prodecan

 

Letter metadata

Gattung
Verfasser
Empfänger
Datierung
07.03.1874
Entstehungsort
Entstehungsland
Zielort
Jena
Besitzende Institution
UAJ
Signatur
UAJ, M 438, Bl. 2r-v
ID
47363