Carneri, Bartholomäus von

Bartholomäus von Carneri an Ernst Haeckel, Marburg an der Drau, 14. September 1900

Marburg 14. IX. 00.

Hochverehrter und geliebter Freund!

Sie sind wohl noch auf hoher See. Möchten Sie uns noch recht lange in voller Arbeitsfähigkeit erhalten bleiben! Wieviel werden Sie noch leisten! Kein Tag vergeht, an dem ich nicht in meinem Lehnstuhl rauchend, meine Gedankenwolken nach Java sende.

Schreiben kann ich noch, und wie man sagt, sogar besser als früher; obwohl ich dabei keinen Buchstaben und nur die Zeilen sehe; ich schreibe || eben sehr langsam, während ich früher immer in Eile schrieb. Überlesen könnt’ ich das Geschriebene nur mit größter Anstrengung, und unterlasse es, weil ich einen etwa gefundenen Fehler an falscher Stelle corrigiren würde. Einem totalen Erblinden geh’ ich – nach dem Ausspruch der Ärzte – nicht entgegen, wohl aber einer Zeit, in der ich gar nicht mehr werde lesen können. Na, in meinem Alter kann sich’s nicht mehr um viel handeln. Vielleicht bringe ich – selbstverständlich mit starker Nachhilfe fremder Augen – meinen Dante noch fertig. Allein was dabei, seit || ich mit dem Übersetzen, das mich rein beseligte, zu Ende bin, meinerseits Arbeit genannt werden kann, ist ein Minimum, für meinen Glückseligkeitsbedarf viel, viel zu wenig. Lachen Sie mich nicht aus: ich lerne jetzt das Gedicht auswendig. Das nimmt die Augen sehr wenig in Anspruch, und ich freue mich wieder vom Abend auf den Morgen. Bei unserer Weltanschauung ist es das Erste, mit so viel Genügsamkeit geboren zu sein, daß man sich in’s gegebene Loos finde bis zur Zufriedenheit. Aber gänzlich langt man damit nicht aus; unerläßlich gehört dazu ein gewisses || Maß Arbeit. Noch hab’ ich beides und meine alten Leiden nehmen zwar fortwährend zu – ich kann kaum mehr geh’n und diesmal mußte ich mir zum Wörthersee und zurück Begleitung gefallen lassen – aber noch immer überschreiten sie nicht meine Kraft. Caro, che vuoi di più?

Von meinen Kindern alles erdenkliche Liebe. Als mir Fritzi die Aufgabe vorlas, die Ihrem Abschiedsrundschreiben beiliegt, wässerte mir der Mund. Vielleicht wär dies auch für mich etwas gewesen. Daran ist nicht einmal im Traum mehr zu denken. Aber träumend und wachend gedenkt im Traum Ihrer Ihr unwandelbarer

B. Carneri

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
14.09.1900
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 4730
ID
4730