Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an die philosophische Fakultät, Jena, 9. März 1872

Senior venerande!

Assessores gravissimi!

Herr Wilhelm Rein aus Eisenach, Cand. theol. und Realschullehrer in Barmen, 25 Jahre alt, bewirbt sich um die Promotion in absentia. Derselbe hat 2 Jahre hier in Jena und 1 Jahr in Heidelberg Theologie und Philosophie studirt und hierauf in Weimar 1869 die theologische Staatsprüfung „gut“ bestanden. Nächste Ostern geht er als erster Seminarlehrer nach Weimar. Der Candidat sendet zwei Arbeiten ein, eine philosophische „Über die Stellung Herbarts zu Kant“, und eine pädagogische über „Herbarts Regierung, Zucht und Unterricht“. Von der ersteren sagt der Verfasser selbst, daß die übernommene Aufgabe seine Kräfte übersteige. Die zweite Abhandlung reicht er als Promotionsschrift ein. Ich ersuche Herrn Kollegen Fischer um sein informatives Votum.

Jena den 9. März 1872

Hochachtungsvoll

Haeckel

d. Z. Decan ||

Decane maxime spectabilis

Der Candidat hat in dem I. Theil seiner Arbeit eine „Darstellung“ von Herbarts Pädagogik, in dem II. Theil deren Beurtheilung geben wollen. Diese letztere ist ein ganz oberflächliches Gerede über die Eintheilung der Herbartschen Paedagogik und völlig werthlos. Auch unwissend. Mit ein paar wohlfeilen Wendungen sucht sich der Vf. von den pädagogischen Untersuchungen der anderen Philosophen loszukaufen, mit einem Citat aus Herbart hilft er sich über Fichte, mit einem Citat aus Benecke über Schelling und Hegel weg. Von Kant und Hegel weiß er nicht einmal, daß von beiden pädagogische Schriften existiren.

Der Werth seiner Arbeit kann demnach nur im I. Thle. gesucht werden. Hier aber steht die Sache noch schlimmer. Was der Verf. giebt, ist keine Darstellung Herbarts, auch kein Auszug, sondern eine aus zwei Herbart’schen Schriften schleunig zusammengestoppelte, größtentheils wörtliche Copie, die ich vom Anfange des eigentlichen Themas, S. 15–36 am Rande durch Zahlen bezeichnet und verfolgt habe. Diese beiden Schriften, die „Allgemeine Pädagogik“ und „Umriß pädagogischer Vorlesungen“ (Ausgabe Hartmannstein, Bd. X). Die einfachen Zahlen gehen auf das erste, die paragraphisch bezogenen Zahlen auf das zweite Werk. Unser Candidat verfährt so, daß er aus einem ins andere abschreibt.

2. Th. S. 15–18 (excl. die beiden letzten Zeilen) = Herbarts Allgemeine Pädagogik (Herbart, S. 4–26), dann S. 18 u. 19 = Umriß pädagogischer Vorlesungen § 4–5) – S. 20–23 = Allgemeine Paedagogik § 58, 59, 62, 63, 65, 64, 66) – S. 23–26 = Umriß paedagogischer Vorlesungen S. 47, 49, 48, 49, 50, 53 u. s. f. – Bisweilen spielt er Versteck. In folgender Weise: S. 20 Abschn. II Der Unterricht. Wörtlich aus den Herbarts Vorlesungen § 58, 59, 62. Dann S. 22 Anfang, die ersten 15 Zeilen nicht aus den Allgemeine Paedagogik, sondern Allgemeine Paedagogik S. 52 finden sie sich wörtlich, dann geht es wieder in die Vorlesungen über, um S. 23 (am Ende) wieder in die Allgemeine Pädagogik zurückzuspringen. Daß er Sätze u. Seiten des Originals wegläßt, hie und da ein Wort ändert oder eine Wortstellung, ändert nicht den Charakter der Copie, da ich nicht gern Plagiat sagen möchte. ||

Ich empfehle die Abweisung des Candidaten so motivirt, daß der kritische Theil seiner Arbeit werthlos sei, der darstellende aber dergestalt abschriftlich aus den beiden Herbartschen Quellen geschöpft und schlecht zusammengesetzt sei, daß er keineswegs als eigene Arbeit des Candidaten gelten könne.

K. Fischer 10/III

Für Abweisung. Snell. | Ebenso. Stickel | Nipperdey | A. Schmidt | E. E. Schmid | A. Geuther | C. Bursian | Moriz Schmidt

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Beschluß: Abweisung

Hkl

 

Letter metadata

Gattung
Verfasser
Datierung
09.03.1872
Entstehungsort
Entstehungsland
Zielort
Jena
Besitzende Institution
UAJ
Signatur
M 422, 131r-132r
ID
47296