Haeckel, Ernst

Missiv des Dekans der philosophischen Fakultät, Ernst Haeckel, Jena, 20. Februar 1872

Senior venerande!

Assessores gravissimi!

Ich habe Ihnen heute einen Fall vorzulegen, welcher wohl in den Annalen unserer Facultät noch nicht dagewesen ist. Es bewerben sich nämlich gleichzeitig um die Promotion in absentia zwei verschiedene Apotheker, welche eine und dieselbe lateinische Abhandlung botanischen Inhalts: „De Smilacearum Structura“ als Promotionsschrift einreichen. Die Dissertation in beiden Exemplaren ist Wort für Wort, von Anfang bis zu Ende, dieselbe. Sogar dieselben (zum Theil groben) lateinischen Fehler kehren in Beiden wieder, und um die Identität zu vollenden, sind schließlich dieselben vier lateinischen Thesen angehängt, von denen No. 2 und 3 des vorigen Jahrhunderts würdig sind. Der einzige Unterschied zwischen beiden Exemplaren besteht darin, daß der Berliner Apotheker sich die Mühe genommen hat die Abhandlung selbst abzuschreiben, während der Straßburger sie durch jemand anders hat abschreiben lassen. Allerdings passiren dabei Jedem der Beiden auch Special-Fehler. So schreibt z. B. der Erstere in These 3 statt „Fructificationem – Fructificati /omnem! Der Letztere schreibt „ampligrana“ statt amyli grana! ||

No. I. Herr Moritz Rudolph Claus, Apotheker „erster Classe“ in Berlin, versichert „auf Ehrenwort an Eides Statt“, die vorgelegte Abhandlung vollkommen selbstständig verfaßt zu haben „mit Vorbehalt resp. dem Bemerken, daß er bei der Correktur der Übersetzung fremde Hülfe „in Anspruch genommen“ habe (!). Er hebt hervor, daß er in Berlin mehrere städtische Ämter bekleidet: bei der Servis-Deputation, bei der Einschätzungs-Commission und der Armen-Commission. Aus dem Curriculum vitae geht hervor, daß er 46 Jahre alt ist und sich bis jetzt ordentlich mit Kaufen und Verkaufen von Apotheken beschäftigt hat; jetzt aber sich von der Praxis zurückziehen und „mehr wissenschaftlich beschäftigen will“! Das pharmaceutische Staats-Examen hat er „sehr gut“ bestanden.

No. II. Herr Oscar Desaga, Apotheker „erster Classe“ in Straßburg, versichert kluger Weise nur „auf Ehrenwort“ (– nicht an Eides Statt nach dem Wortlaut der Bedingungen –), daß er die vorgelegte Abhandlung vollkommen selbstständig verfaßt habe. Er hebt hervor, daß er eine Menge wissenschaftliche Aufsätze verfaßt habe „von denen viele warm empfohlen worden sind“. Eine Broschüre || über den Anbau des Mohns und über den Farbstoff Mohitli legt er als Specimen bei. Aus dem Curriculum vitae geht hervor, daß er 33 Jahre alt ist und eine Reise nach England, Rußland und Amerika gemacht hat. Das pharmaceutische Staats-Examen hat er ebenfalls „sehr gut“ bestanden.

Jedenfalls muß dieser versuchte doppelte Betrug die ernsteste Erwägung und Bestrafung von Seiten unserer Facultät erfahren. Jedoch gehen die Ansichten über die Art und Weise der letzteren bei Mehreren der Herren Collegen, denen ich den Fall mitgetheilt habe, so sehr auseinander, daß wir wohl durch schriftliche Meinungs-Äußerung zu keinem Beschlusse kommen werden. Ich lade Sie daher zu einem Consess auf nächsten Sonnabend den 24. Februar

4 Uhr Nachmittags

hierdurch ergebenst ein. Ich bemerke noch, daß der Herr Ordinarius der Juristen-Facultät, den ich wegen der juristischen Seite des Falles consultirt habe, es für das Angemessenste hält, die Angelegenheit officiell mit Nennung der beiden Namen in einer Berliner und einer Straßburger Zeitung zu veröffentlichen.

Hochachtungsvoll

Jena den 20. Februar 1872

Haeckel

d. Z. Decan ||

Decane maxime spectabilis

Ich werde erscheinen.Snell

- Ebenso. Stickel

- pr. r. Nipperdey

- pr. E. E. Schmid

- pr. K. Fischer

- A. Geuther

- Moriz Schmidt

- C. Bursian

 

Letter metadata

Gattung
Verfasser
Empfänger
Datierung
20.02.1872
Entstehungsort
Entstehungsland
Zielort
Jena
Besitzende Institution
UAJ
Signatur
M 422, 39r-40v
ID
47258