Carneri, Bartholomäus von

Bartholomäus von Carneri an Ernst Haeckel, Marburg an der Drau, 19. Mai 1899

Marburg 19. V. 99.

Inniggeliebter und verehrter Freund!

Tausend herzlichsten Dank für die liebe gute Karte vom 11. Dieses und den hocherfreulichen Brief, den mir Fräulein delle Grazie zur Einsicht gesendet hat. Ja, wann haben Sie das neueste Buch geschrieben? Sie sind ja erst mit einem großen Werk fertig geworden! Mich freut das riesig; denn es beweist wie nichts, daß es Ihnen persönlich gut geht. Was Sie Ihre künftigen morphologischen Spielereien nennen, wird, || wie Ihre herrlichen „Kunstformen der Natur“, wirkliche Arbeit sein. Möchte das Arbeiten bei Ihnen fortdauern, solang sie athmen: Arbeit ist das einzige völlige Leben. Niemand weiß das besser als ich, der ich jetzt nur durch eine Scheinarbeit mich ober Wasser erhalte. Wenn ich nur noch im Stande bin, Ihr neuestes Buch (der Inhalt sagt unendlich viel) im wahren Sinn des Wortes in mich aufzunehmen! Mit dem eigentlichen Arbeiten ist’s bei mir total aus. Ich kann meine Gedanken nicht beisammen behalten. Ich kann nur etwas Briefe schreiben u. über- || setzen. Mit dem Lesen geht’s immer schwerer, u. versuch’ ich’s, mir Ernsteres vorlesen zu lassen, so verliere ich den Faden. Hoffen wir, daß ich im October noch im Stande sein werde, in recht kleinen Absätzen Ihr Buch selbst zu lesen. Was mir die richtige Sammlung so sehr erschwert, ist der fast unaufhörliche Schmerz. Mit dem Gehen’ geht’s schon fast nicht mehr und auch die Arme sind in Mitleidenschaft gezogen. Bei der Innervation happert es. Ein richtiges Elend, das aber noch nicht über meine Kraft geht, worauf es schließlich bei allem Leiden allein ankommt. Mein Magen ist noch || immer der alte, der Humor so gut wie der Magen und das Rauchen ist mir eine den ganzen Tag währende Freude – alles nur, weil ich keinerlei schmerzstillende Mittel brauche. Darum erhalte ich mich äußerlich unglaublich gut. Diese Lebenszähigkeit hat nur die Schattenseite, daß ich zu alt werden kann u. dann die letzten Jahre in einen Zustand gänzlicher physischer Unbehilflichkeit verfallen dürfte. Aber ich denke nie daran.

Dann hab’ ich das große Glück, daß es meinen Kindern kaum besser geh’n könnte. Sie sind bereits am Wörthersee, wohin ich ihnen morgen Ihre Grüße sende u. hoffentlich anfangs Juli folgen kann. Was Sie über Ihre Kinder sagen, || ist mir durch’s Herz gegangen. Soll das gar nicht besser werden können? Um so erfreulicher ist mir die gute Nachricht über Ihre Frau. Möchte die Besserung anhalten!

An den Stunden, die Sie mir in Kärnten geschenkt, zehre ich noch immer, und stundenlang kann ich, in meinem schwarzen Lehnstuhl rauchend, mit Ihnen reden – in neuester Zeit fast nur über Gott. Jetzt lachen Sie. Oh, wenn ich nur ein Mal noch mit Ihnen plaudern könnte – wirklich mit Ihnen, Sie leibhaftig mir gegenüber!

Bleiben Sie ja immer so gut

Ihrem ganz Ihrigen

B. Carneri

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
19.05.1899
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 4720
ID
4720