Carneri, Bartholomäus von

Bartholomäus von Carneri an Ernst Haeckel, Marburg an der Drau, 7. April 1898

Marburg a. D. 7. IV.98.

Geliebter und verehrter Freund!

Könnt’ ich nur noch ausführlich schreiben! Sie würden einen Brief erhalten, lang wie Ihr Schweigen. Daß es endlich Ihren zwei lieben Patienten wieder gut [geht], freut mich unaussprechlich, denn ich kenne diese Prüfungen, die ich für die härtesten halte. Möchte die Herstellung von Dauer sein! Würde ich Sie nicht so grenzenlos lieben, so beneidete ich Sie um Ihre ungebrochene Arbeitslust – nach meinen Begriffen das höchste irdische Gut.

Damit ist’s bei mir total aus. Nie auf längere Zeit ohne || Schmerz, bringe ich’s so wenig zu einer festen Concentration, daß ich Wissenschaftliches, vorgelesen, nur mangelhaft auffasse. Das schlechte Auge wird nicht besser, das gute allmählich schwächer, so daß ich das Selbstlesen auf ein Minimum reduziren muß. Schicken Sie mir daher vor der Hand nichts, aber dafür umso gewisser Ihr künftiges Buch. Es wird das letzte sein, daß ich lese, und hoffentlich bring ich’s kleinweise zuwege.

Rau’s Buch hab’ ich seinerzeit durch ihn erhalten und, so gut ich konnte, durchgeseh’n. Er bekämpft brillant die, übrigens schon durch Wundt abgethanen, „spezifischen Energien“, die aber in unserer Zeit wieder immer allgemeiner || in Schwang kommen, weil man durch diese Annahme über manche Schwierigkeit leichter hinweg kommt als beim Festhalten an der Functionsindifferenz. Aber so viel ich weiß, läßt Rau die Frage des Bewußtseins ganz in bianco. Und diese Frage können Sie allein wissenschaftlich beantworten, und solange dies nicht in einer andern Weise geschieht als durch die Annahme, es sei das Bewußtsein von der Empfindung unzertrennlich, ist – für mich – der Monismus ein Dualismus. Wie sehr nach Ihrem neuesten Werk ich mich sehne, können Sie sich vorstellen.

Könnt’ ich noch arbeiten, so wär’ ich, trotz meiner fort und fort zunehmenden Unbehilflichkeit, der glücklichste Mensch der Welt. Unglücklich bin ich || aber noch immer durchaus nicht. Noch immer gelingt es mir, die Tage bei gutem Humor hinter mich zu bringen, und seit die Brustkrämpfe gewichen, sind meine Nächte gut. Das allein – man muß eben wissen, was schlechte Nächte sind – genügt, um mich zufrieden zu machen. Noch hoffe ich, dies Jahr den Juli und August am Wörthersee zubringen zu können, und der noch immer Pläne schmieden kann, ist gewiß noch immer gut dran.

Meine Kinder sind heute um 1 Uhr von Triest nach Constantinopel abgedampft, wo sie aber nur kaum 8 Tage bleiben, weil Ihnen die Seereise das Wichtigste ist. Seien Sie von uns allen dreien herzlichst gegrüßt, und bleiben Sie immer soviel, als Sie nicht einmal ahnen können, Ihrem ewig dankbaren

B. Carneri

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
07.04.1898
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 4716
ID
4716