Carneri, Bartholomäus von

Bartholomäus von Carneri an Ernst Haeckel, Krumpendorf am Wörthersee, 21. Juli 1896

Krumpendorf 21. VII. 96.

Hochverehrter und geliebter Freund!

Nun bin ich vierzehn Tage hier und länger kann ich nicht säumen, für Ihren lieben, guten Brief Ihnen zu danken.

Ich kann nicht, ohne Ihrer zu gedenken, in den See hinausblicken. Wenn Wünsche helfen könnten, würde Ihre Frau hergestellt sein u. Ihre Tochter Ihnen keine Sorgen mehr machen, so daß Sie || bereits in der Lage wären, in irgend einer erquickenden Gebirgsgegend die so dringend nöthige Erholung zu suchen.

Kann mich nur zu gut in Ihre Leiden hinein denken! Bei Erkrankung derer, die wir lieben, giebt’s keine Resignation. Wie gut hab’ ich’s jetzt. Die Existenz meiner Kinder läßt nichts zu wünschen übrig, meine Schmerzen sind nicht mehr bedeutend, ich habe gute Nächte und meine Kräfte nehmen zu. Das Augenlicht will freilich nicht besser || werden, aber ich habe nichts zu thun und ich erhalte mir einen Schein des Arbeitens, durch den ich mich über meine Unthätigkeit hinwegfoppe. Die Tage schwinden, ich weiß nicht wie. Verachten Sie mich nicht, wenn ich Ihnen meine neueste „Dichtung“ hierher setze:

Der die Zeit weiß todtzuschlagen,

ist der klügste Mann auf Erden;

Hei! wie da die Stunden jagen,

In der Angst, erwischt zu werden.

Und soll ich Ihnen sagen, was allein mich toll machen könnte? Unsere niederträchtigen politischen Zustände mit der von unten geförderten || Reaction. Gelähmt da zusehen zu müssen, versetzt mich manchmal in einen heiligen Zorn. Aber da beruhige ich mich bei dem Gedanken, daß die jetzige Generation es nicht besser verdient, daß eine bessere kommen wird, und daß es dann wieder besser werden wird. Ich habe eine herrliche Zeit des Fortschritts erlebt u. freue mich, so glücklich gewesen zu sein. Wie viele können das nicht sagen, und wie beruhigend ist es, an keine Weltlenkung zu glauben. Es kann nur sein, wie es ist. Aber ich kann mit dem Schreiben nicht mehr recht weiter u. schließe – Sie in die Arme Ihres dankbaren

Carneri.

Alles Herzliche von meinen Kindern.a || Schicken Sie mir Stona’s Buch nicht zurück.b

a Text auf dem oberen Rand von S. 4, um 180° gedreht: Alles … Kindern.; b Text auf dem oberen Rand von S. 1, um 180° gedreht: Schicken Sie … nicht zurück.

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
21.07.1896
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 4709
ID
4709