Carneri, Bartholomäus von

Bartholomäus von Carneri an Ernst Haeckel, Marburg an der Drau, 26. Januar 1896

Marburg 26. I. 96.

Geliebter und verehrter Freund!

Hier ist endlich das längst angekündigte Feuilleton über die Gedichte der delle Grazie, die es – Sie können Gift darauf nehmen – vollkommen begreift, daß Sie sich mit ihrem Robespierre nicht näher einlassen können.

Mir war diese Besprechung eine sehr erwünschte Gelegenheit, Dr. Tille, dem ich ein Exemplar davon sende, öffentlich zu sagen, in wie weit ich im Stande wäre, mich ihm zu nähern. Wenngleich er meinen eigentlichen Standpunkt nicht gelten läßt, so ist es mir doch sehr werthvoll, daß so vieles || von mir seitens eines Zukunftmenschen acceptirt wird. Der Gedanke, daß das Richtige in der Mitte liegen dürfte, genügt mir vollkommen. Den Anspruch, der Menschheit einen neuen Weg zu bahnen, hab’ ich ja nie erhoben. Wohinaus übrigens die Menschheit kommen wird, ist auch dem Dr. Tille nicht klar.

Daß aber die landläufige Moral einer wesentlichen Reform entgegengeht, ist unbestreitbar. Die Ehe wird nicht aufgegeben werden; aber man wird nur die guten Ehen hochschätzen und die schlechten Ehen nicht hinan reichen lassen zu edlen außerehelichen Verhältnissen. Ein muttergewordenes Mädchen, || das nur ihrem Kind lebt, wird man nicht tiefer stellen als eine andere brave Mutter.

Eine Herrenmoral neben einer Sklavenmoral wird es auch nicht geben, weil es immer weniger Sklaven geben wird. Dagegen werden die vornehmen Naturen immer ihre Aparte-Moral habena; nur läßt sich eine solche nicht als Satzung öffentlich feststellen und ist es Sache des Individuums, seine Lebensweise den Massen zu imponiren. Wir haben das jetzt schon: Wie vieles wird bei einem Goethe natürlich gefunden, was bei einem Dutzendmenschen verdammt würde. Man wird kein Goethe zu sein brauchen, um zu einer Ausnahmestellung || zu gelangen; aber einem Dutzendmenschen wird dies schon gar nicht gelingen.

Die Achse, um die sich das alles dreht, ist das rein darwinistische Moment, daß das vorzüglichere Individuum sich auflehnt gegen die, die ganze Art verderbende Nivellirung.

Wär’ ich nur noch arbeitsfähig! Aber ein Bißchen mehr beisammen bin ich doch schon, und vielleicht bring’ ich’s noch so weit, ein Kapitel: Blick in die Zukunft, – zu schreiben, das sich in eine neue Auflage meines Modernen Menschen einfügen ließe.

Damit grüße ich Sie, hoffend, – ich brauche nur eine Karte, denn Sie gehören zu jenen, die auf eine Postkarte alles hinaufbringen – daß Sie endlich, nicht bloß von den Todten auferstanden, sondern ganz hergestellt sein werden.

Immer Ihr alter

Carneri

a eingef.: haben

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
26.01.1896
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 4702
ID
4702