Carneri, Bartholomäus von

Bartholomäus von Carneri an Ernst Haeckel, Marburg an der Drau, 22. Dezember 1895

Marburg 22. XII. 95.

Geliebter und verehrter Freund!

Von einem Tag auf den anderen warte ich mit der Beantwortung Ihres lieben Briefes, weil ich dem mitfolgenden Büchlein eine Besprechung der soeben erschienenen III. Auflage der Gedichte delle Grazie’s beilegen möchte, die hoffentlich demnächst in der Neuen Freien Presse erscheint. In dieser Besprechung überrascht Sie wohl, was ich über Nietzsche sage; aber ich fürchte nicht, daß Sie es mißbilligen werden. Mir war es ein Bedürfniß, Dr. Alexander Tille, dem ich den Aufsatz schicke, zu sagen, wie weit ich mich ihm nähern könnte; darum riß ich diese Gelegenheit vom Zaun. Vielleicht legt er einen || Werth darauf. Für mich ist seine Beurtheilung meiner Schriften von hohem Werth; denn ich habe das Gefühl, mitgewirkt zu haben an der Klärung der Zukunft.

Wissen Sie aber, warum ich Ihnen das alles sage? Damit Sie sehen, mit wie geringen Leistungen man zufrieden sein kann. Ich glaube nicht, mich damit lächerlich zu machen; aber lächerlich wär’ ich, wie noch nie wer lächerlich gewesen ist, wenn Sie bei Ihren eigenen Leistungen nicht genügend Grund hätten zufrieden zu sein, wie es nur den Elite-Menschen gestatten ist. Wo wäre heut noch die Entwicklungslehre und auf wie || enge Kreise beschränkt und auf wie unsichern Grundlagen fußend wäre sie ohne Haeckel? Was Sie manchmal wie Entmuthigung faßt, entspringt der Bescheidenheit des echten Genius, in Verbindung mit der Höhe, zu der Sie gestiegen sind, und von der aus Sie sehen, was alles noch der Mensch zu erobern hat im Gebiet des Geistes.

Ich zweifle übrigens nicht, daß, bis diese im Grunde recht überflüssigen Zeilen in Ihre Hände gelangen, die trübe Stimmung, in der Sie den vor mir liegenden Brief geschrieben haben, längst verschwunden sein wird. Da Sie aber wissen, was für mich Ihr Glück ist, so werden Sie obigen Herzenserguß begreifen.

Und hoffentlich ist keines Ihrer || Lieben noch leidend – das ist der einzige Punkt, gegen den ich immer absolut wehrlos war – und geht’s mit dem Geh’n allmählich besser.

Daß Sie nicht sich entschließen können, den Robespierre zu besprechen, begreife ich vollkommen. Nicht blos, weil ich, wenn ich über ein Gemälde mein Urtheil abgeben sollte, in einer ähnlichen Lage wäre, sondern weil die Welt überhaupt anderes von Ihnen beansprucht, und wenn schon nicht Reinwissenschaftliches, höchstens das energische Eingreifen in eine brennende Tagesfrage. Und auch unsere junge Freundin beginnt das zu versteh’n.

Den 23.

Der genannte Aufsatz scheint vor Weihnachten nicht mehr zu kommena. Werd’ ihn extra schicken. Wie mein Dante-Fragment entstanden ist, glaub’ ich Ihnen geschrieben zu haben. Nehmen Sie’s sammt meinen u. meiner Kinder Grüßen und Glückwünschen mit Ihrer Liebe auf u. bleiben Sie immer so gut Ihrem ganz Ihrigen

Carneri

Im Ganzen geht’s mir besser.b

a irrtüml.: kommten; b Text auf dem oberen Rand von S. 1: Im … besser.

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
22.12.1895
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 4700
ID
4700