Carneri, Bartholomäus von

Bartholomäus von Carneri an Ernst Haeckel, Marburg an der Drau, 7. Februar 1895

Marburg 7. II. 95.

Geliebter und verehrter Freund!

Gleich hab’ ich mir Ihren erfrischenden Gallerguß vorlesen lassen, und noch warm davon drück’ ich Ihnen die Hand dafür mit diesem Brief, der in ein paar Tagen wohl fertig werden wird. Laut aufgejubelt hab’ ich, S. 3, bei der Zusammenstellung Helmholtz Darwin, S. 5, beim Umsturzmann Friedrich des Großen, S. 7, beim Convertiten Hohenzollern, und S. 9, beim Vorschlag zum Schutz der Ehe. Zur Zeit des Impavidi progrediamur haben Sie nicht energischer gesprochen, – und dabei so fein! Ihr Gott erhalte Sie!

Längst würd’ ich mich gemeldet haben, wenn ich Ihnen hätte sagen || können: es geht wieder passable. Dahin hab’ ich noch lang. Aber es geht besser und hoffentlich dauert die Besserung fort.

Dabei denk’ ich gar nicht an’s Auge, das sich entschieden bessert, aber so langsam, daß die gänzliche Herstellung noch unabsehbar ist. Lesen darf ich noch gar nicht, und nur etwas schreiben, den Augen mich nur bedienend, um gerade zu schreiben. Da ich nur ganz Indifferentes dictiren kann, mach’ ich davon keinen Gebrauch und habe mir das Leben so eingerichtet, daß ich mit ein paar Stunden, die man mir vorliest, vollkommen auslange und fast nie an die noch immer etwas dreckige Macula denke.

Weit fataler war eine wirklich „infame“ Verschlimmerung meiner alten Zustände. Zu den verschiedensten || Muskelschmerzen gesellte sich ein dummes Herzklopfen und ein noch dümmerer Brustkrampf, der mich oft bei Tag und die halbe Nacht marterte, daß ich recht herabkam. Das ist jetzt besser; ich leide noch zur Genüge, aber ich fühle mich nicht mehr krank, habe wieder meinen alten Appetit und nehme wieder etwas an Kräften zu. Mit dem Gehen geht’s schlechter als je, aber es geht noch.

Wieso ich bei alledem immer bei bester Laune war? Weil ein Herzschlag das herrlichste Ende meines vollendet glücklichen Lebens gewesen wäre, und ich meiner Auflösung, insofern ich gar nichts mehr vorhabe, zwar noch einigen Menschen angenehm, aber niemand nothwendig bin, mit vollendeter Seelenruhe entgegensah, und – als Glücksvogel der ich immer || war – auch in dieser Lage eine Arbeit gefunden habe, die mich bei Tag und bei Nacht, so gänzlich in Anspruch nahm, daß ich alles Leiden darüber vergaß.

Sechs Gesänge Dante’s, die ich in meiner Jugend auswendig wußte, hab’ ich in meinem Gedächtniß aufgefrischt, was nur hin u. wieder einen Blick in’s Buch kostete und bei meinem schlechten Gedächtniß ein unendlicher Kunstgenuß war. Wie ich sie ganz inne hatte, machte ich mich an’s Übersetzen, wobei ich gar nicht lesen und nur alle heilige Zeiten ein paar Verse niederzusetzen brauchte. Bin damit so gut wie fertig, und ist die Arbeit, wie ich glaube, gelungen, so geschah es nur, weil ich das Original inne hatte, wie kaum ein anderer und mir Zeit zu Gebot stand, wie gewiß keinem andern Übersetzer. Zu 3, 4 Versen brauchte ich wiederholt zwei ganze Tage und die freien Stunden der dazugehörigen Nächte.

Jetzt leb’ ich ganz in delle Grazie’s Robespierre, der mir exemplarisch vorgelesen wird, trotz einiger realistischer Auswüchse, ein Meisterwerk, das ich jetzt im Geiste und vielleicht noch schriftlich bespreche. Hoffentlich geht’s Ihnen allen gut; meinen Kindern, die Sie herzlichst grüßen – unberufen – vortrefflich! Immer Ihr

Carneri

9./2. 95.

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
07.02.1895
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 4692
ID
4692