Carneri, Bartholomäus von

Bartholomäus von Carneri an Ernst Haeckel, Marburg an der Drau, 2. September 1890

Marburg 2. Sept. 1890.

Geliebter und verehrter Freund!

Hat er noch nicht genug? – müssen Sie denken. Und dennoch schreibe ich wieder, weil ich besorge, zuviel gesagt, d. h. zu lebhaft gesprochen und durch die Bestimmtheit, mit der ich gesprochen, Sie unangenehm berührt zu haben. Ich weiß keinen Naturforscher, den ich, wie Sie, ganz an Darwin’s Seite stelle, und verstehe selbst eigentlich von der Sache nichts. Da gehört sich’s nicht, so zu reden, wie ich’s gethan habe. Allein ich liebe Sie bis zur Raserei und gehe ganz auf in meine Arbeiten. Da giebt’s nichts anderes als vollendete Wahrhaftigkeit, und bin ich über ein Buch empört, so kann ich’s nur rund heraus sagen. || Dafür gebe ich mich Ihnen vollständig preis und wäre überglücklich, wenn Sie mich gleich ad literam schopfbeuteln könnten.

Schon S. IX. der Vorrede wurde ich toll über die Art, wie Wolff Sie mit dem Mann des Ignorabimus zusammenstellte. Jene 7 Räthsel giebt’s nicht, während es die von Ihnen gesetzte Grenze giebt und immer geben wird. Darum bleibt doch das Feld der Forschung unermeßlich und das Streben nach Absolutem ein Widersinn.

Würde Wolff seine vor den Atomen kommenden Bionten als eine Hypothese geben, so ließe sich darüber reden; aber nicht nur sagt er: es ist so, – er macht das Moralische zu einem integrirenden Element der Materie!

Den Willen erweist er als frei; || sieht man aber seinem Erweisen auf den Grund, so ist sein freier Wille determinirt. Überhaupt wimmelt’s in diesem Buch von Trugschlüssen.

Das Bewußtsein nimmt er einfach an, weil es da ist, was ja niemand bestreitet. Sobald aber das seelische Moment da ist, so fühlt er sich berechtigt die chemische Affinität als seelischer Natur zu behaupten. Natürlich haben dann auch die Atome Bewußtsein, und kann er Kraft gleich Begierde setzen, weiß aber auch kein Mensch mehr, wovon er eigentlich spricht.

Den Monismus erhält er aufrecht, indem er den Stoff in eine Seele verwandelt, nur das Psychische übrig läßt, gerade das, wovon wir keine sinnliche Gewißheit haben. Dabei kommt aber doch (II. S. 123) im Raum auch ein Gott || vor, mit dem ich gar nichts anzufangen wüßte. Allerdings ist es meine Schuld, daß mir dieser Begriff ganz überflüssig geworden ist. Überhaupt ist es merkwürdig, daß gerade jetzt, da die bedeutendsten lebenden Philosophen – Alois Riehl u. Friedrich Jodl – die Metaphysik ganz aufgegeben haben, ein neuer Metaphysiker ersteht. Sobald man alles erklären will, giebt es freilich nur diesen Weg. Die Metaphysik ist nicht die Vollendung der Naturwissenschaft, sondern ihr diametraler Gegensatz. Sie giebt Antwort auf alles, nur darf man nicht merken, daß sie blos ein Echo ist.

Ich kann mir nicht helfen: viel, viel leichter als alles, was Wolff sagt, kann ich mir, nach Art des Daseinskampfes der Individuen, einen Kampf um’s Dasein der Zellen, Cytoden, Molekeln und Atome vorstellen und bin überzeugt, daß die exacte Wissenschaft diesen Kampf, ohne Zuhilfenahme der Teleologie, immer heller beleuchten wird, und verlange nur nach Einem: daß Sie immer gut bleiben Ihrem bis in den Tod

ergebenen

B. Carneri

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
02.09.1890
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 4656
ID
4656