Carneri, Bartholomäus von

Bartholomäus von Carneri an Ernst Haeckel, Pest, 12. Januar 1871

Pest, 12. Jänner 1871.

Mein hochverehrter Herr!

Aus dem Lande der Husaren, wo ich nun als steiermärkisches Mitglied der Delegation des österreichischen Reichsraths mich befinde, aber darum nicht minder, ja, womöglich noch mehr deutsch, danke ich Ihnen für Ihr Schreiben vom 5. dieses, das für mich wahrhaftig unschätzbar ist. Es wäre mir ganz unmöglich, Ihnen die Freude zu schildern, mit der mich die Freundlichkeit erfüllt hat, mit welcher Sie mein Buch aufgenommen haben. Auch für die werthvollen Beigaben meinen wärmsten Dank. Heft 52 u. 53 besitze ich zwar || bereits, so wie auch die II. Auflage Ihrer „Natürlichen Schöpfungsgeschichte“; aber ich habe beides nicht hier, so daß mir die zwei Vorträge über die Entstehung und den Stammbaum des Menschen und die zwei Tafeln II. und XV, die vielleicht die interessantesten sind, beinahe ebenso angenehm kamen, als die mir noch ganz neuen Hefte 78 u. 110, die nicht wenig dazu beitragen werden, mir über die mitunter mordende Zeit hinweg zu helfen, die ich noch hier zuzubringen habe.

Um auf Ihren lieben, lieben Brief zurückzukommen, muß ich offen gestehen, daß ich der Besorgnis mich nicht erwehren || kann, es dürfte ein näherer Einblick in mein Buch Ihr über alles Erwarten günstiges Urtheil bedeutend modificiren. Mein Trost dabei ist, daß Sie von der Redlichkeit meines Strebens nur mehr und mehr sich überzeugen werden. Ich habe immer den Gedanken walten lassen, gleichgiltig gegen die Consequenzen, die sich ergeben mochten. Bei der Grundlage, von der ich ausging, war es, ohne einen Verstoß gegen die Logik, gar nicht möglich, zu einem Resultat zu gelangen, das in Widerspruch mit der Naturforschung gerathen könnte, und dieß galt und gilt mir als der verläßlichste Prüfstein für die Richtigkeit meines Ausgangspunktes wie meiner Folge- || rungen. Daß man auf rein physiologischem Wege über den Begriff Sitte nicht hinauskommen könne, ist mir so klar, wie daß wir zum Begriff der Sittlichkeit nur auf idealistischem Wege gelangen können. Und daß die Idee, wie ich sie fasse, identisch sei mit Naturgesetz, zu keinem Dualismus führe, und vielmehr mit dem Begriff des Allgemeinen den ächten Monismus philosophisch begründe, ist mir ebenso klar. Etwas anderes ist es freilich, ob die Philosophen vom Fach meine Philosophie als wirkliche Philosophie werden gelten lassen. Allein auch darüber könnte ich mich trösten, wenn es mir gelungen sein sollte, jedem Gebildeten, der sich etwas bemühen will, verständlich zu sein.

Nochmals meinen tiefgefühltesten Dank, und die vielleicht dreiste, aber nicht zu bewältigende Bitte, wenn die Riesenarbeit, der Sie obliegen, Ihnen die Zeit gönnen sollte, das ganze Buch zu lesen, mit Einer Zeile mir zu sagen, ob ich auf dem eingeschlagenen Wege fortfahren soll. Via Braumüller findet mich jeder Brief, und Ihr Urtheil – denn Sie würdigen die Philosophie – geht über jedes andere

Ihrem dankbarst ergebenen

B. Carneria

a Text am oberen Rand von S. 4, um 180° gedreht: mir zu … B. Carneri

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
12.01.1871
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 4592
ID
4592