Focke, Wilhelm Olbers

Wilhelm Olbers Focke an Ernst Haeckel, Bremen, 30. Juli 1908

Steinernes Kreuz 5, Bremen, 30.7.08

Mein lieber alter Freund!

Es ist Dir vergönnt gewesen, im Laufe der letzten Jahre eine ganze Reihe von Gedenk- und Ehren-Tagen zu feiern. Keins dieser Feste scheint mir so bedeutungsvoll zu sein, wie das der Einweihung Deines Museums, in dem sich Deine Lebensarbeit sichtbar darstellt und gleichsam verkörpert. Nimm für diesen äußeren Erfolg oder eigentlich zu dem erfolgreichen äußeren Abschluß Deiner Tätigkeit meine wärmsten und aufrichtigsten Glückwünsche entgegen! Den Abschluß verstehe ich in dem Sinne, wie die Beendigung der Tagesarbeit, wenn man die Feder aus der Hand legt. Das Werk ist getan, aber darum brauchen die letzten Abendstunden nicht tatenlos und un-||fruchtbar zu verstreichen – im Gegenteil, gerade die reifsten Früchte erwachsen oft aus jenera geistigen Sammlung, welche der abgeklärte Rückblick auf die Lebenserfahrungen verleiht.

Es ist mir eine große Freude, die phylogenetischen Tatsachen, nach denen ich mich in meiner Jugendzeit sehnte, nunmehr inb so reicher Fülle gesammelt zu sehen. Du hast selbst so viel dazu beigetragen, den neuen Wissenszweig sowohl durch eigne Arbeit als auch durch die von Dir gegebenen Anregungen zu begründen und zu entwickeln. Wenn ich Dir in den sich daran knüpfenden philosophischen und religionsphilosophischen Anschauungen nicht immer folgen kann, so liegt das wohl an unserm ursprünglich verschiedenen Bildungsgange. Als ich auf die Universität zog, glaubte ich || weder an die übernatürliche Schöpfung der organischen Arten, noch an irgend eine Pfaffenreligion. Virchow’s Halbheit auf naturphilosophischem Gebiete war mir schon damals unsympathisch; Klarheit erhoffte ich vorzüglich durch Lyell, von dem ich damals nur indirekt Kunde hatte. Bei dieser Denkweise ist der Unterschied zwischen meiner ursprünglichen und meiner jetzigen Weltanschauung nicht so sehr groß; es handelt sich um keine theoretischen Unterschiede, sondern nur um einen allerdings ganz gewaltigen Fortschritt in der Klarheit der Vorstellungen und Begriffe. Für neue Religionen oder für Ersatzmittel der Religion kann ich mich nicht begeistern. Religionen lassen sich ebenso wenig neu schaffen wie Sprachen; gewiß ist es viel verständiger Esperanto zu schreiben, als uns mit || sinnlosen und widersinnigen Artikeln und grammatischen Formen zu plagen, aber trotzdem müssen wir fortfahren abgeschmackter Weise: der Tisch, die Bank, das Mädchen und das Weib zu sagen. Es ist c die Allmacht der phylogenetischen Entwickelung, die sich in der Sprache und in der Gedankenwelt der Menschen ebenso gut wie in der Natur offenbart.

Da bin ich wieder bei der Phylologenie angelangt. Und so schließe ich mit dem herzlichen Glückwunsche zu dem phylogenetischen Museum, mit dem ich diese Zeilen eingeleitet habe.

In der Hoffnung, daß Du die schönen Festtage in Gesundheit und Kraft durchleben kannst, gedenkt Deiner

freundschaftlichst

Dein W. O. Focke.

a korr. aus: jeder; b eingef.: in; c gestr.: das

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
30.07.1908
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 45153
ID
45153