Haeckel, Carl Gottlob

Carl Gottlob Haeckel an Anna und Ernst Haeckel, Freienwalde, 2. Oktober 1862

Freyenwalde | 2 Octob. 62.

Lieben Kinder!

Mutter hat mir Eure Briefe vom 30sten hieher nachgeschikt und ich kann nicht unterlaßen, Euch ein Paar Worte darauf zu antworten. Mutter und ich haben beinah 3 Wochen beim schönsten Wetter in Hirschberg zugebracht und wir haben in Naturgenüßen wirklich geschwelgt, da a das Wetter die Ansicht des Gebirges auf alle Weise begünstigte. Das Gemüth wurde durch den Anblik der Berge aufs herrlichste angesprochen, Gott hat es so eingerichtet, daß jedes in seiner Art schön und erquikend ist und daß das Minder-Schöne und Erhabene neben diesem letztern ganz unabhängig bestehen und das Gemüth erquiken kann. Die Lage von Hirschberg habe ich dieses Mahl ganz besonders in Augenschein genommen, da der Weg, welcher die Eisenbahn aus diesem Thal herausführen soll, ziemlich schwierig ist und ihn zu finden mir sehr am Herzen lag. Dazu kamen die beginnenden Verschönerungen um die Stadt, indem die Stadtgräben schon b ziemlich ausgefüllt und zugeschüttet sind und auf denselben schöne Promenaden um die Stadt herum angelegt werden sollen. Schuberts haben wir wohl getroffen, sie haben einen sehr lieben Knaben, der ihnen große Freude macht, nur fehlt Adolph eine bestimmte Beschäftigung, wonach er großes Bedürfniß fühlt, aber sein Zustand ist insofern krankhaft, als er sich zu nichts entschließen und nichts festhalten kann, es ist offenbar nicht c eigentliche Faulheit, aber es ist noch etwas von seiner Krankheit zurükgeblieben, das sich in dieser Unschlüßigkeit äußert. Ich habe mit ihm darüber gründlich gesprochen, es wird aber schwer halten, ihn dazu zu bringen, eine Sache ein Mahl anzugreifen, zumal er im Leben ganz unpraktisch und sich von den Menschen zurükzuziehen geneigt ist.

In Berlin kamen wir den 21sten an, dort bin ich 8 Tage geblieben, da aber das Wetter so schön war und die Freyenwalder jetzt nicht nach Berlin kommen konnten, so ließ es mir keine Ruhe, ich mußte sehen, wie es hier aussah. Auch jetzt ist das Wetter hier noch schön. Ich habe sie alle sehr munter gefunden, sehr verändert den kleinen Heinrich und die kleine Marie, die ganz prächtig geworden und sehr vorgeschritten sind, beide allerliebst, die kleine Marie wie ein kleiner Vollmond, wie man sie auf Bildern hat, der Kleine zumeist lebhaft und sehr gesprächig. Es will doch etwas sagen, || so eine zahlreiche Familie zu unterhalten und die Mutter so vieler Kinder ist doch den ganzen Tag über ungemein beschäftigt, das Fragen, Beantworten, Zanken, Versöhnen reißt gar nicht ab. Für die Bedürfniße des kleinen Volks muß immerfort genäht, gewaschen, ausgebeßert werden, daneben ist aber auch die geistige Entwikelung der kleinen Kinder höchst intereßant, und kaum zu begreifen, wie sie die Sprache als Ausdruk der Gedanken und als die richtige Bezeichnung der letztern verstehen lernen, ohne daß sie unterrichtet werden. Denn die erste Uebersetzung des Gedankens in die Sprache macht das Kind selbst. Das ist seine ursprüngliche selbständige Funktion. Es hat aus den gehörten Worten geschlossen, was diese bedeuten und ahmt sie nun im Gebrauch nach. So sagt mir Mimmi, die kleine 2jährige Marie verstehe schon fast alles, was gesprochen wird und gebe es wieder. Was ist das für ein ungeheurer Sprung im menschlichen Geiste!

Der kleine Heinrich ist ganz prächtig, lebhaft, anschmiegend, beredt, jähzornig, er kann 3–4 Mahl mit den Füßen stampfen, wenn ihm etwas nicht recht ist. Auch die größern Kinder sind intereßant, nur ist der d Carl obzwar gescheidt zu muckisch, es ist wenig aus ihm heraus zu kriegen, wenn er auch alles weis und versteht, eine besondre Natur, Hermann dagegen viel geschwätziger, auch Anna, die sich sehr anschmiegt. So mache ich hier in der Kinderwelt meine Betrachtungen und freue mich, daß ich ein paar Tage hier gewesen bin.

Mutter hat sich in Schlesien recht tapfer gehalten, sie ist dieses Mahl viel wohler gewesen als voriges Jahr, hat einige ziemlich starke Touren auf die Berge gemacht, ich habe immer darüber gewacht, daß sie es nicht zu arg macht. Als wir von Schlesien zurükkamen, hatte Mutter noch immer keine Köchin. Luise, die bei Minchen gewesen, hatte sich unbestimmt ausgesprochen, zuletzt als wir zurükwaren und sie sich erklären sollte, trat sie mit unglaublichen Prätensionen hervore, sie wollte ein eigenes gewärmtes Zimmer zum Schlafen und außerdem noch eines wo sie ihre Bekannten empfangen könnte. Das wurde Mutter zu toll und ließ sie sie laufen, es mochte ihr wohl von Anfang an nicht Ernst gewesen sein. Nun meldete sich ein Mädchen, was schon vor unserer Abreise nach Schlesien dagewesen war, und sich inzwischen fleißig und gut geführt hatte. Die hat nun Mutter als Köchin genommen. Die 2te zu besorgende Angelegenheit war die Absendung Eurer Sachen. Ich bin deshalb 2 Mahl beim Fuhrmann Henkel gewesen, der mir erklärte, daß er vor dem 4ten October nicht laden könne. Die Sachen werden nun wohl per Ei-||senbahn abgeschikt sein. Es kommt ganz darauf an, daß sie in Weimar gehörig in Empfang genommen und mit Vorsicht auf einem ordentlichen Möbelwagen von Weimar nach Jena transportirt werden. Bis dahin, daß ihr sie an Ort und Stelle habt, werdet Ihr ein etwas unbehagliches Leben führen. Das schöne Wetter wird Euch wohl die Existenz erleichtern.

Ihr habt doch sehr starke Touren auf Eurer Reise gemacht und wir fürchten, Anna wird sich übernommen haben und der hinkende Bote wird nachkommen. Auf Euren Touren um und nach Meran habe ich Euch von Insbruck aus genau verfolgen können. Der Weg von Sterzing über den Jauffen nach Meran ist sehr beschwerlich, ich habe ihn umgekehrt gemacht, von Meran nach Sterzing auf einem störrischen Maulesel, der nicht fort wollte. Als wir den Jauffen erstiegen, stieg ich ab und ging nach Sterzing voraus, da kam die Canaille, als sie nichts mehr zu tragen hatte, schnell nach. Auch die Tour durch den Finstermünzpaß über Nauders nach Meran habe ich gemacht. Die letzte Meile vor Meran fuhren wir unter lauter Weingirlanden, was mich höchlich ergötzte. Sodann die grotesken Flurschützen auf den Fluren um Meran. Die Gegend ist köstlich, und gedenke ich der Reise noch mit dem größten Vergnügen.

Hier bei uns in Preußen ist böse Zeit. Der Militärabsolutismus wird seine letzten Trümpfe in den nächsten Jahren ausspielen, bis er sich endlich festgeritten haben wird. England hat das alles schon durchgemacht und uns wird diese Erfahrung nicht erspart. Man wird ganz an die Regierung Georg III in England im vorigen Jahrhundert erinnert. Aber grade die Kämpfe machen für die Freiheit reif, sie muß erobert werden, sonst hat sie keine Wurzel.

Morgen will ich nach Berlin zu Mutter zurük. Wir sehen nun in den nächsten Wochen Euren weitern Nachrichten über die Ankunft der Möbel und Eure Einrichtung entgegen.

A Dieu,

liebe Kinder

Euer Alter Hkl.

a gestr.: uns; b gestr.: schö; c gestr.: die; d gestr.: Klar; e eingef.: hervor

 

Letter metadata

Datierung
02.10.1862
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 44967
ID
44967