Walther, Hermann

Hermann Walther (Verlagsbuchhandlung) an Ernst Haeckel, Berlin, 12. Juni 1894

HERMANN WALTHER
VERLAGSBUCHHANDLUNG

BERLIN W., KLEIST-STRASSE 14

Den 12 Juni 1894

Hochverehrter Herr Professor!

Die in diesem Briefe behandelte Angelegenheit hat keine Eile. Gelegentlich finden Sie vielleicht Muße diesen Zeilen eine viertel Stunde Ihrer kostbaren Zeit zu schenken.

Vor mehreren Jahren schrieb Ihnen ein Realschüler aus Caßel – ich glaube – zwei Briefe. Dieser junge Mann wurde von Ihnen zweier Antworten gewürdigt, die ihn beglückten; es betraf naturwissenschaftliche Fragen.

Der junge Mensch hat inzwischen sein Realgymnasial-Abiturientenexamen gut bestanden, ging nach Leipzig auf die Universität, wurde Socialdemocrat, Agitator, relegirt, erhielt als Redakteur – 24 Jahre alt – zwei Jahre Gefängniß, weil er seiner Entrüstung über die Soldatenmißhandlungen unvorsichtigen Ausdruck geliehen etc, studierte im Gefäng-||niß neben seinen Naturwissenschaften Goethe.

Er hatte sich fest vorgenommen sich durch die Haft nicht erbittern zu lassen; er führte dies nicht nur aus, er erwarb sich vielmehr im Gefängniß eine Weltanschauung, die ihn das Lebenswerthe als das Vorwiegende empfinden läßt; er findet nicht mehr alles „herzlich schlecht“.

Der nunmehr 26jährige hatte im vorigen Herbst, im letzten Vierteljahre seiner Haft, die Reicht´stagscandidatur von Leipzig von den Socialdemocraten angeboten erhalten; kurz darauf hielt er sich im Gewissen verpflichtet aus der socialdemocratischen Partei öffentlich auszutreten. Die meisten Zeitungen brachten damals die Notiz, daß der frühere Leipziger Student Walther May seinen Austritt aus der socialdemocratischen Partei der Parteileitung angezeigt habe etc.

Dieser Walther May ist mein Neffe, Sohn eines bei Gravelotte gefallenen Offiziers, und jetzt durch meine Vermittelung in einer hiesigen Druckerei Correktor. Er ist tüchtig || und zufrieden in seiner Stellung, steht morgens stets um 5 Uhr auf, arbeitet dann zuerst für sich, geht um 7 Uhr in das Geschäft. Ein bis zwei mal wöchentlich kommt er in mein Haus, sein einziger Verkehr, da er keine Bekanntschaft bislang angeknüpft hat.

Der Verkehr mit dem jungen Mann hat mir nun wiederholt die Frage vorgelegt, ob ich es vor mir verantworten kann, diesen ungewöhnlichen Menschen in solcher Stellung altern zu lassen.

Als ich ihn jüngst frug, ob er nicht Sehnsucht habe, Sie, hochverehrter Herr, einmal kennen zu lernen, sagte er, jedenfalls wünsche er es nicht, denn, gefiele er Ihnen schlecht, so würde das für sein ganzes Leben vernichtend sein.

Ich glaube am besten durch diesen Ausspruch von ihm sein Empfinden für Sie zu charakterisieren.

Mays Naturanlagen sind ungewöhnliche; seine hinreißende Beredtsamkeit ließ ihn den guten Sachsen so einsteckenswerth erscheinen. Seine Begeisterung für || Alexander v. Humboldt und Darwin, um die toten Herrn der Naturwissenschaft zu nennen, hat mitunter etwas erschütterndes. „Der Geschichte der Naturwissenschaften hätte ich mich widmen mögen, wäre ich nicht aus meiner Bahn geworfen worden.“

Noch einmal: Der junge Mann ist zufrieden, hat sein Brod. Ich aber, der ich täglich, im Verkehr mit Persönlichkeiten auf verschiedenen Gebieten menschlicher Thätigkeit, mit Politikern, Männern der Wissenschaft, Geschäftsleuten, Menschen zu kennen und zu beobachten Gelegenheit habe, ich muß mir immer von Neuem die Frage vorlegen,: Darf dieser Mensch seinem Beruf vorenthalten bleiben?

Daß der W. May zufällig mein Neffe ist, beeinflußt mein Urtheil jedenfalls nicht zu seinen Gunsten; die mir nahe stehenden Menschen sind selten meine Verwandten.

Ich schreibe diesen Brief um mein Gewissen zu beruhigen, da ich die Empfindung habe, daß nur Sie mir Rath geben könnten.

Mit ausgezeichneter Hochschätzung aufrichtig Ihnen ergeben

Walther

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
12.06.1894
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 44858
ID
44858