Kautsky, Karl

Karl Kautsky an Ernst Haeckel, Wien, 28. Oktober 1882

Wien, d. 28. Oktober 1882.

Sehr geehrter Herr Professor!

Gestatten Sie, daß ich mich mit einem Anliegen, meine Dissertation betreffend, an Sie wende.

Ich will kurz sein und kann dieß um so eher, da Herr Prof. Volkelt wohl bereits so freundlich war, mit Ihnen über mich zu sprechen.

Ich habe an der Wiener Universität neun Semester lang zugebracht und dann im Auslande, namentlich in England, im britischen Museum, studiert. Ursprünglich wollte ich mich der Aegyptologie zuwenden, kam jedoch zur Überzeugung, daß wir die ägyptische Urgeschichte erst dann richtig verstehen werden, wenn sie auf der Basis der Anthropologie und vergleichenden Ethnologie aufgebaut wird, wie dieß verschiedene Forscher mit Glück bereits für die griechische Vorgeschichte unternommen haben. Ich wendete mich daher dem Studium dieser beiden Fächer zu. Naturnothwendig drängten sich mir dabei die verschiedenen Theorien über die Entstehung der Ehe auf, und da mich keine befriedigte, fühlte ich mich gezwungen, das Thema weiter zu verfolgen. Das Resultat davon bildet die beiliegende Arbeit über die „Entstehung der || Ehe und Familie. Ich habe die Absicht, demnächst an eine größere Arbeit über die sociale und politische Verfassung des Menschen zu gehen, dazu ich bereits ziemliches Material gesammelt habe und hierauf, nachdem ich so eine genügende Basis gewonnen, mich wieder den alten Aegyptern zuzuwenden.

Ich halte es jedoch für nothwendig, daß ich das Alles thue, den Doktortitel zu erwerben, obwohl ich nicht die Absicht habe, je ein Katheder zu besteigen, sondern stets nur mit der Feder thätig sein will. Aber ich weiß, welchem Mißtrauen jeder zu begegnen hat, der mit neuen Ansichten auftritt, und möchte, wenn schon nicht das Mißtrauen gegen die Ansichten, so doch das gegen den, der sie vorbringt, von vornherein abschwächen.

Ich hoffe, daß es keine Schwierigkeit machen wird,a die Dissertation, auf die hier ich den Doktorgrad erwerben möchte, b in eines der normalen Prüfungsfächer einzureihen. Ihnen, geehrter Herr Professor, dürfte sie am nächsten liegen. Obgleich wesentlich ethnologisch, basirt sie doch vollkommen auf der Darwin’schen Theorie, mit der sie steht und fällt. Andererseits aber beschäftigt sie || sich mit einer Aufgabe, die als Fortsetzung der Darwin’schen Theorie betrachtet werden kann: der, nachzuweisen, daß die Ehe kein eingesetztes, sondern ein mechanisch entstandenes, selbstthätig entwickeltes Institut ist, und ebenso die Familie, und daß die Keime derselben schon in der Thierwelt liegen. Daß es mir zur besonderen Genugthuung und größten Freude gereichen würde, bei Ihnen, dem Altmeister des Obskurismus in Deutschland und seinem kühnsten und vorurtheilslosesten Vertreter, mein Examen ablegen zu dürfen, brauche ich nach dem Gesagten kaum noch zu versichern.c

Ich war bereits im September in Jena, und mußte leider wieder unverrichteter Sache abreisen. Der Herr Dekan der philosophischen Fakultät meinte, meine Dissertation werde jedenfalls in das Gebiet der Geographie fallen. Für Geographie giebt es aber keinen Prüfungsprofessor in Jena, sondern es wird dieß Fach einem der das zunächstliegende Fach treibenden Herrn zugewiesen, dem Historiker, Geologen etc. Nun, ich glaube, die Ethnologie und Anthropologie dürften dann dem Zoologen zufallen, ich denke, in erster Linie Ihnen, der Sie sich bereits in Ihrer „Schöpfungsgeschichte“ mit Anthropologie und Ethnologie befassen.

Die Bitte, die ich an Sie stelle, sehr geehrter Herr Professor, geht nun dahin, meine beifolgende Arbeit zu lesen und zu entscheiden, ob dieselbe zu einer Dissertation überhaupt geeignet sei, und ob Sie in dem Falle, als ich sie der philosophischen || Fakultät einreichted, die Absicht hätten, als mein Examinator aufzutreten. Als Nebengegenstände würde ich Geschichte und Philosophie wählen.

Einer geneigten Antwort entgegensehend zeichnet hochachtungsvoll

Ihr ergebener

Karl Kautsky

Wien, IV, Hungelbrunngasse 14.

a gestr.: Leider verspricht, eingef.: Ich hoffe, daß es keine Schwierigkeit machen wird,; b gestr.: nicht dem Studiengang, der an deutschen Universitäten üblich ist und es ist sehr schwer, sie; c eingef.: Daß es mir zur besonderen Genugthuung und größten Freude gereichen würde, bei Ihnen, dem Altmeister des Xxx in Deutschland und seinem kühnsten und vorurtheilslosesten Vertreter, mein Examen ablegen zu dürfen, brauche ich nach dem Gesagten kaum noch zu versichern.; d korr. aus: einzureichte

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
28.10.1882
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
Unbekannt
ID
44662