Schweninger, Ernst

Ernst Schweninger an Ernst Haeckel, Schloss Schwaneck, 30. Oktober 1906

SCHLOSS-SCHWANECK 30. Oct. 06

Hochverehrter Herr Geheimrat, unser Aller vielgeliebter Meister und Lehrer!

Eben kehre ich von einer Consultationsreise – Baden-Baden, Bozen, Meran – zurück und finde ich Ihren gütigen Brief, den ich um so lieber umgehend beantworte, als er mir willkommene Gelegenheit gibt, Ihnen, bewunderter Meister u. Forscher, meine unbegrenzte Verehrung und Dankbarkeit für alle Forschungen u. schöpferischen Leistungen erneut zum Ausdruck zu bringen u. gleichzeitig meinerseits dankbarst der himmlischen Jenenser Tage zu gedenken, die wir mit Otto, dem Einzigen, im Juli 1892, zu verleben das Glück hatten. Man muß sich immer wieder daran erinnern u. es festhalten, angesichts der unsagbaren Verluste u. Wandlungen, die wir seitdem erlebt haben. – Betr. Frl. Holgers, für die ich eben so großes || Interesse wie Teilname empfinde, kann ich Ihnen eröffnen, daß ich ihr Leiden für ein hartnäckiges, vorerst noch funktionelles, vornehmlich im vaso-motorischen Nervengebiete ablaufendes halte. Wenn man wie ich seinerzeit in Lichterfelde, sie ganz körperlich und seelisch zu beeinflussen im Stande ist, und die Verordnungen nach Bedürfniß corrigieren, a variieren und modifizieren kann, so glaube ich, daß sie auch jetzt noch erfolgreich zu behandeln und in die Höhe zu bringen ist. Es ist mir dieß schon einmal in Großlichterfelde gelungen u. fehlte dießmal, in Ebenhausen nur Zeit, Stimmung, Vertrauen, vielleicht ungenügend persönlicher Einfluß etc. Wenn Frl. Holgers ausgehalten u. mir sich zugänglicher, gehorsam erwiesen hätte, was bei häufigerer Begegnung vielleicht auch zu erreichen gewesen wäre, || so wäre auch dießmal der Erfolg kaum ausgeblieben. Gerne will ich ihr wieder zu Diensten sein, falls sie Versuche in Ebenhausen oder bei Ziegelroth Zehlendorf, oder Marcinowski Tegel etc machen wollte, wohin ich jederzeit gerne meine Instructionen geben würde. Der Zustand erfordert so viel individuelle Berücksichtigung, daß ich nicht glaube, jeder Arzt könne ohne Sanatoriumsbehandlung Erfolge erzielen. Das muß Frl. Holgers auch gefühlt haben, sonst wäre sie nicht trotz mancher, harter Zusammenstösse, die ich physisch für nöthig hielt, immer wieder auf meine Rathschläge zurückgekommen. Um in der Zunftsprache mich auszudrücken und zu resümieren, obwohl mir das als streng individualisirenden Arzt weniger zusagt, könnte ich mich prognostisch relativ günstig äußern, wenn Alles, was ich für nötig halte, geschieht u. so, wie es Zeit u. Umstände erheischen || modifiziert wird. Dieses complicirte, namentlich im Gefäßnervensystem sich abspielende Nervenleiden müßte durch zweckmäßige Ernährung, physische Beeinflußung, Abwechslung in Bewegung, Ruhe, Lagerung, geeignete Badeprozeduren, Sonnen-Luft-Lichtbäder etc. corrigirt werden. Als Wirke in der Therapie möchte ich jeweilig auch kleine Mahlzeiten, in der Vermeidung von Cafee, Thee, Fleischsuppen, geistigen Getränken, nennen, dazu heiße u. kalte Applicationen, Bergsteigen, Massagen etc empfehlen, all‘ das nach Ort, Zeit, Verhältnissen, Beschäftigung, Befinden etc angepaßt. Zu weiteren schriftlichen und mündlichen Rathschlägen bin ich gerne bereit.

Zum Schluße möchte ich es als eine besondere Gunst bezeichnen, wenn ich aus Ihren Händen die Lebenswunder oder Berliner Vorträge erhalten würde. Ich schließe nach heißen Wüschen für Sie u. den Ausdruck unbegrenzter Hochachtung, Verehrung u. Ergebenheit als Ihr

gehorsamer E. Schweninger

a gestr: s

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
30.10.1906
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 44649
ID
44649