Haeckel, Carl Gottlob

Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, Berlin, 13. April 1859, mit Beischrift von Anna Sethe

Berlin 13 Aprill 59

Mein lieber Ernst!

Anna ist jetzt wieder hier und wir haben ihr daher Deinen letzten Brief vom 4ten dieses sogleich mittheilen können, aus dem wir ersehen haben, daß Du Dich nun auf einige Zeit in Neapel niedergelaßen. Es sieht in diesem Moment sehr kriegerisch aus, daß weder Oesterreich, noch Sardinien noch Frankreich entwaffnen will. Der Erzherzog Albrecht ist seit gestern hier, um das Nöthige mit Preussen zu verhandeln. Indeß spürt man bei uns äußerlich nichts, es wird alles im Stillen zurecht gemacht. Ich wünsche nur, daß Du in Deinem Aufenthalt in Italien nicht gestört werden mögest und es freut mich ungemein, daß Du dort schon so schöne Geist und Gemüth erhebende Genüße gehabt hast. Wäre ich jung, so müßte ich Rom, das mich ganz besonders intereßirt, auch sehen. An diesen Ort knüpfen sich große Erinnerungen der Weltgeschichte und ich lebe seit 4–6 Wochen hauptsächlich in Rom, habe die alte nach Livius etc. bearbeitete und dann die neuere Bearbeitung dieser Geschichte durch Momsen wieder vorgenommen, nachdem ich wohl 30–40 Jahre von dem, was ich auf dem Gymnasio und Universität von dieser Geschichte gehört, gezehrt habe. Die neuere Bearbeitung durch Niebuhr, die ich nicht kenne, und besonders durch Momsen ist doch viel geistreicher. Während in den alten Autoren das Merkwürdigste der innern Gestaltung nur so beiläufig vorkommt und viele einzelne Geschichten erzählt werden, die nicht wesentlich sind, hebt unsre neure Geschichtsschreibung die innre Organisation der Staaten und Völker, ihre Entwikelung, ihre historische Bedeutung und den Zusammenhang der Geschichte des einzelnen Volks mit der Universalgeschichte weit mehr hervor und wir verstehen jetzt die römische Geschichte weit beßer als die Römer selbst, da wir sie nun nach beinah 2000 Jahren im Zusammenhang mit dem Ganzen betrachten. So ist z. B. die einzelne Erscheinung, daß der Vatikan, der Palast des Papstes, mit heidnischen Kunstwerken fast übersät ist, höchst bedeutend. Man vergleicht sogleich die alte griechische Geisteskultur mit der neuern christlichen, man läßt jener mehr Gerechtigkeit wiederfahren und begreift doch, wie sie einseitig zur Entwikelung der Menschheit nur theilweise geeignet war, während das christliche Princip welterobernd und weltgestaltend geworden. Wir sind jetzt im Stande, die Bestimmung und das Ziel des Menschengeschlechts schon weit vollständiger und klarer zu übersehen, als dieses bei den Alten der Fall sein konnte. Wir kennen und umschließen die ganze Erde, während die Alten nur einen Theil davon kannten. Aber höchst vollendet ist doch die Seite des Geistes welche die Alten kannten und darstellten und wir rahmen sie in das Gesamtbild des menschlichen Geistes mit ein. Eben so lehrreich sind die politischen Ereigniße und Erfahrungen, welche die Alten gemacht haben und indem ich jetzt die Bezwingung der Latiner und Samniten durch die Römer lese, werde ich unaufhörlich an unser gegenwärtiges Deutschland und an Preußen erinnert, was sich aber doch anders gestalten wird, so daß die Preußische Hegemonie in Nord-Deutschland eine andre sein [wird] als die römische in Italien, sie wird nicht zur Unterjochung ausarten, dagegen sichert das christliche Princip und man erkennt schon in den Kriegen gegen die Latiner und Samniten die römische a unerbittliche Herrschsucht, die sich zuletzt alles unterwarf und nichts neben sich duldete. Gleichsam zur Versöhnung ist die griechische Kunst nach Rom gewandert um uns mit Rom wieder auszusöhnen. Dabei muß man dem kräftigen Nationalgeist der Römer, dem aber die Liebe fehlt, immer Bewunderung zollen. – Ich habe den Riß von Rom und einige Photographien, worunter die eine kleinere, die Dub an Anna geschikt hast, immer vor mir liegen und verfolge vom Kapitol aus den Blik über Rom, dessen schöne bergigten Umgebungen mich in hohem Maße anziehen. Ich muß Dir nur Eins ans Herz legen: Wage Dich nicht c einzeln an unsichre Orte, du könntest sonst aus dieser Welt verschwinden, ohne daß wir etwas von Dir erführen. Was sollte aus [uns] werden? || Sei also ja sehr vorsichtig, besonders, wenn Du etwa in den Sommermonaten in die Abruzzen reisen willst, wo es wenigstens früher sehr unsicher gewesen, und man nur mit einiger Sicherheit reisen konnte, wenn man in ganz ärmlicher Kleidung erschien. So erzählte mir noch Hecht als er in Italien gewesen (in den 20ger Jahren). Ferner richte Dich ja mit der Diät und Arbeit nach dem Klima, damit Du nicht krank wirst. Setze übrigens Deine d Tafel mit anständigen Leuten in Neapel fort, Du sollst Dir durch Knauserei keinen wirklichen Lebensgenuß auf dieser Reise entgehen laßen. Deine Reise ins Sabiner Gebirg und das Kloster auf dem Monte Cavo hat uns sehr intereßirt. In Neapel wirst Du jetzt eher eine andre, südlichere Natur genießen, die wieder ihre eigenen Reitze hat, während Rom noch mehr den Uebergangspunkt bildet. – Mutter ist wieder beßer, nur die Kräfte fehlen ihr noch sehr, es ist Nervenabspannung und Rükenschwäche. Sie geht wieder aus, aber das Marschiren wird ihr schwer. – Am 3ten waren wir in Freyenwalde, wo getauft wurde und wir einige Tage recht vergnügt verlebten. Aegidi jun. hat einen Ruf als Profeßor der Geschichte an das Gymnasium in Hamburg mit 2000 rℓ Gehalt erhalten. Ob er ihn annehmen wird, weis er nicht, da er die Profeßur an der Universität aufgeben müßte. Er würde aber hinreichende Muße behalten, um fortzustudiren und sich weiter auszubilden. – Carl ist wohl, die Kinder wachsen und gedeihen, der kleine Heinrich (so heißt der neue Ankömmling) ist ein prächtiger Junge, Mimi hat eine schlimme Brust, die Knoten sind in diesen Tagen aufgegangen. Minchen ist noch dort und Anna wird sie wahrscheinlich ablösen. – Seitdem unsere Reaktionärs das Terrain oben verloren haben, knirschen sie vor Wuth und treiben in blindem Fanatismus die Sache aufs äußerste. Sie rasen förmlich und erklären: Durch die Maasnehmungen des jetzigen Ministerii sei das Christenthum in größter Gefahr und fordern Volk und Geistlichkeit zu Protestationen auf. Sie beschreiten ganz kühn den Weg der Revolution. An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen. Sie finden aber im Volk keinen Boden. Das Herrenhaus wird in starke Opposition gegen ein sehr vernünftiges Ehegesetz auftreten, was jetzt aber mit großem Beifall in der 2ten Kammer erörtert wird. Diese Reaktionärs sind so toll, wie die ärgsten Demokraten, nur daß ihnen die Zustimmung des Volks fehlt. – Wir haben hier häufig Regen, eine ganz milde Witterung und es fängt schon an grün zu werden. – Adolph Schubert ist hier seit einigen Monaten. Er muß sich meist im Zimmer aufhalten, da er nicht ganz wohl ist, es gefällt ihm aber hier. – Ottilie Lampert unterstützt die Mutter in der Wirthschaft und ist ein sehr gutes Mädchen. – Tante Bertha ist ziemlich munter. – Philipp Bleek wünscht in Buenos Ayres zu bleiben und dort eine Schafherde anzulegen. Ob er es wird durchführen können, weis man noch nicht. – Mollards sind aus Venedig zurük, sie haben in Venedig viel wärmer gehabt, als ihr in Rom. Das haben die Deutschen versichert, die aus Rom nach Venedig gekommen sind. – Pätzold ist nach Würzburg wo er Doktor wird und dann e als Profeßor der Physiologie nach Jena geht. Hartmann kommt wahrscheinlich nach Halle an Max Schultz Stelle der nach Bonn versetzt ist. Martens besucht uns zuweilen und wir lesen ihm Deine Briefe vor. Er ist uns immer sehr willkommen, am 3ten ist auch dem Profeßor Braun ein Sohn getauft worden. Die Geheime Räthin Weißbesuche ich wie gewöhnlich und ich erzähle ihr von Dir. Sie ist wohl. Sonst wüßte ich Dir nichts von Bedeutung zu schreiben.

[Beischrift von Anna Sethe]

Donnerstag Morgen den 14.4.59. Guten Morgen, mein herziger Schatz; ich kann früher wie gewöhnlich mit Dir plaudern, weil der Alte nicht Alles beschrieben hat. Ich bin sehr froh, daß Du eine passende Wohnung gefunden hast und in Gedanken jetzt oft mit Dir an Deiner offenen Thür, sehe den rauchenden Vulkan vor mir, das blaue Meer mit dem reizenden Capri, Alles, Alles in den feinsten, schönsten Farben und drücke Dich an’s Herz vor Entzücken; dann kommt eine wehmüthige Pause, meine Arme sind leer, ich bin allein, fern dem Besten auf der Welt und dem herrlichen Stückchen Erde, auf dem Du lebst. Und doch bin ich fröhlich und glücklich, genieße in Gedanken Alles Schöne mit Hülfe Deiner lieben, wahren, ausführlichen Briefe mit; lebe fast nur Dir, obgleich das Meer uns trennt und bin gesund und || guter Dinge. Du hast herrliche Kunstgenüsse gehabt, die Deiner idealen, lebhaften Seele einen gewaltigen, bleibenden Eindruck gemacht haben, Dein klares, offenes Auge hat sich durch schöne Formen und reiche Farbentöne verwöhnt, Du hast die Vollendungen der Vergangenheit in Naturwahrheit wiedergegeben, bewundert und mit einem Male bist Du diesen Tempeln, Ruinen, Statuen und Gemälden (die freilich ganz in Mißcredit bei Dir gesunken sind) entrückt, und hast nun mehr Veranlassung die Schönheiten der Natur, Deiner, meiner vielgeliebten Natur, in Dich aufzunehmen, ja durch die Arbeit Dich ganz speciell in dieselbe zu vertiefen; ich dächte der Tausch wäre, namentlich für einen Naturforscher garnicht so übel; nichts destoweniger fühle ich Dir die Sehnsucht nach Rom nach und daß Du Dich noch nicht in Neapel gefällst, bin aber fest überzeugt, es geht Dir in Neapel, wie in Rom, wie jedem Menschen bei einem Wechsel von einem Ort mit dem andern, von verschiedenen Verhältnissen, in denen er sich bewegt; sei das neue besser oder schlechter, die Extreme vermischen sich mit der Zeit, der Mensch gewöhnt sich an Alles und lebt bald ruhig und gleichmäßig fort; die Harmonie des ganzen Wesens, die getrübt war, ist wieder hergestellt. Ähnlich ist es auch mit unserem Verhältniß, lieber Erni; das neue Glück der großen, gegenseitigen Liebe hat uns Beide in einen Taumel, in einige Verwirrung gebracht; wir werden mit der Zeit ruhig an einander denken lernen, werden Maß in die überströmenden Gefühle bringen, Du wirst der Arbeit, Deinem Studium, neben allem Liebesglück Dich widmen können, ich meineg Pflichten als Weib in Sorge um Haus und Wirthschaft, jedenfalls der prosaischef Theil der Ehe, erfüllen und doch neben bei die Interessen des geliebten Wesens lebhaft verfolgen und Liebe und Theilnahme zur Natur und Kunst zu allem Edlen, Schönen, Wahren und Guten mir bewahren. Dann leben wir recht frei, dann kommt Harmonie in unser reiches Leben, dann werden wir etwas leisten, wir genügen den Lebenspflichten eines Christen, wissen uns das Leben auszuschmücken durch Bewahrung der Poesie, die nie ganz fallen gelassen werden darf und bauenh so ein Leben aus, wie es nur die Glücklichen auf Erden kennen. Ich bin in diei Zukunft hineingerathen und habe doch alle Veranlassung, wenn ich sitze und j die Gegenwart auf mich wirken zu lassen. Wie gern plaudere ich mit Dir und doch fehlt es oft an der richtigen Zeit dazu. Mutter ist noch in Freienwalde, wo es Hermine etwas besser geht; ich habe heute große Wäsche, die mich in den nächsten Tagen sehr beschäftigen wird; wundere Dich drum nicht, wenn Du später einen Brief von mir erhältst wie gewöhnlich. Wie ich zuerst in mein Zimmer kam, sah es mich so traurig an; es waren nämlich Deine hübschen Aquarelle, alle meine Blumen nicht da, die es mir jetzt wieder ganz behaglich machen; sitze ich am Fenster mit der Arbeit und schaue gegen Abend in die flackernden Koaksfeuer, rinnt manchmal ein Thränchen, die der Anblick Deines lieben Bildes wieder trocknet; es ist hier ein zu reiches Feld für die Erinnerung der schön verlebten Tage des vergangenen Jahres, als daß sich jetzt bei Entbehrung derselben nicht Wehmuth in’s Herz schleichen sollte. Dafür erfreue ich mich wieder täglich an dem hübschen Herbarium, auf das ich mich schon sehr gefreut hatte; die römischen Blumen werde ich heute Alle auf einem Bogen zusammen arrangiren, wozu mir in Steinspring das nöthige Papier fehlte; die Farben sind prächtig erhalten, nur die rosa Anemone fängt an, lila zu werden. Von den Blumentöpfen von Dir existiren nur noch die beiden Mentogewächse, die neben den Aquarellenk prangen; die übrigen haben sie mir ausgehen lassen. Schließlich muß ich Dich immer wieder quälen mit der dringenden Bitte, Dich nicht in gefährliche Situationen zu bringen, in öden, uncultivirten Gegenden Dich nicht blos auf Deine Dolchmesser und geologischen Stock zu verlassen und nicht zu viel Melonen zu essen, so werde ich meinen herzigen Schatz munter, wohl und unbeschädigt wiedererhalten. Für heute Lebewohl. Laß Dir nette, interessante Thierchen bringen und vergiß darüber nicht Dein Landthierchen, Deine Annelid daheim, die Dich immer grüßt und küßt.

a gestr.: Vor; b eingef.: die Du; c gestr.: zu sehr; d gestr.: erste; e gestr.: na; f korr. aus: meinen; g korr. aus: den prosaischen; h Textverlust durch Ausriss, sinngemäß ergänzt; i Textverlust durch Ausriss, sinngemäß ergänzt; j Textverlust durch Ausriss; k korr. aus: dem Aquarell

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
14.04.1859
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 44126
ID
44126