Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Charlotte und Carl Gottlob Haeckel, Vevey, 11. – 14. September 1856

Vevey am Genfer See

11/9 56 Abends 11 Uhr

Liebste Eltern!

Es ist schon spät am Abend. Ich bin erst um 7 Uhr hier angekommen, habe dann nicht weniger als 4 Briefe expediren müssen (an Kölliker, Kunde, Lavalette, Karl) und bin daher äußerst müde. Und doch muß ich euch heute noch schreiben und den Brief sogleich abschicken, damit Karl meine Zeilen noch am 20sten erhält. Zugleich lege ich ein in Biel niedergeschriebenes Blatt bei, damit ihr wenigstens den guten Willen von meiner Seite seht, euch ein ordentliches Reisetagebucha zu senden. Freilich sehe ich schon jetzt ein, daß man lieber gar nicht solche Vorsätze fassen sollte, da man doch nicht zu ihrer Ausführung kömmt. Bei der Art, wie ich jetzt meine Zeit eintheilen muß, werde ich höchstens dazu kommen, euch ganz kurze Notizen zu machen. Hoffentlich kann ich die Lücken später ausfüllen und das Versäumte nachholen. Bis jetzt ist übrigens meine Reise so verfehlt und ungünstig abgelaufen, daß ich nur mit Unlust das Nähere ausführen würde.||

Das Beste waren bisher die ersten beiden Tage. Allenfalls noch der dritte. Dann folgte eine solche Reihe kleiner Mißgeschicke, daß ich ordentlich ungeduldig wurde und nicht viel fehlte, daß ich ein gut Stück Muth verloren hätte. Doch statt zu klagen, will ich euch lieber meine Route kurz angeben.

Am I Tag 5/9b also bis Heidelberg, am II bis Basel (wo ich in Freiburg im Breisgau mich 1 Stunde aufhielt und den sehr schönen gothischen Dom mit durchbrochenem Thurm und schönen Glasmalereien ansah).

Am III Tag (7/9) fuhr ich mit der Post von Basel durch das Münsterthal nach Biel (früh 6 – abends 4 Uhr). Leidliches Wetter. Schlechter Sitz im Wagen, mit wenig Aussicht. Das Thal hat sehr schöne und verschiedenartige Parthien, ähnelt im Allgemeinen dem Traunthal im Salzkammergut. Große Kalkfelsmassen über grünen Wiesen und enge Schluchten.

– Interessante Gesellschaft: Alter Geldphilister aus Chauxdefonds. Vornehme, sehr fein gebildete Dame aus Neufchatel mit 2 allerliebsten Rangen und hübscher Schweizer-Gouvernante. Neugierige alte trockne Frau.

– In Biel überfüllter Gasthof, in dem ich zum ersten Mal recht tüchtig geprellt wurde. Abends noch ein hübscher Spaziergang mit leidlicher Aussicht auf den See. Weinberge am Jura. Berner Oberland-Konturen. Kalkflora des Jura. Im Hotel Abends ein Bekannter: ein recht netter Würzburger Kaufmann, S….. ||

Mo. 8/9 (vorm Jahre Oetzthaler Ferner-Tour!). Den ganzen Tag abscheuliches Regen- und Sturmwetter! Nichts als Wolken und wieder Wolken! Von Biel (wo ich für die Nacht im Loch unterm Dach 5 fr zahlen mußte!) über den Bieler See und durch den Ziehl-Kanal über den Neuenburger See bis Yverdon, immer mit demselben kleinen Dampfschiff, das arg hin und her geworfen wurde, so daß fast alle Damen seekrank wurden. Ganz ordentliche, 4–5' hohe Wellen. Namentlich anfangs sehr heftiger Sturm. – Schiff voll Soldaten (Bundestruppen) und Neugieriger, die nach Neufchatel gingen, wo ein paar Tage vorher die royalistische preußische Revolution (Pourtalés) mißglückt war. Thätlicher Wortstreit zwischen Republikanern und Royalisten. Bramarbasirende Helden. Petersinsel im Bieler See. Von Iferten Eisenbahn nach Morgues. Von da um 2 Uhr Dampfboot auf dem Genfer See bis Genf (6 Uhr). Sturm viel unbedeutender und noch größeres Schiff. Aber doch große Wellen. Keine Spur von Aussicht den ganzen Tag. Mit einem Heidelberger Juristen (Schwarz aus Breslau) in der Balance abgestiegen. Abends prächtig erleuchteter Quai mit großartigen Juwelierläden. Hafenumgebung ganz ähnlich dem Jungfernstieg in Hamburg. Schöne blaue (Jod?) Farbe des Seewassers. Fluthende Potamegetonen. [Zeichnung: rotierende Kreuzsegelstange] Rotirende Kreuzsegelstangen. Promenade am Hafen. Relief der Montblanckette.||

Di. 9/9. Früh ging ich sogleich zu Claparède, welcher aber nicht zu Haus, sondern 2 Stunden entfernt auf dem Lande bei seinem Schwager (Landpfarrer) war. Sein Bruder und alter Vater (Theolog) empfingen mich äußerst freundlich. Letzterer ging sogleich mit mir zu ihm hinaus. Sehr hübscher Nachmittag. Sehr freundliche und liebenswürdige Familie. Den ganzen Tag, wie auch den folgenden, schreckliches französisches Kauderwelsch geradebrecht, kein Wort Deutsch. Abends prächtige Ansicht der Montblanckette bei ganz hellem Himmel. Zuletzt noch Abends in Claparède’s Familie in der Stadt (Müller).

Mi. 10/9. Früh mit Cl. (der gestern selbst mit herein gekommen war) in die zoologische und geologische Sammlung. Dann zu Karl Vogt, der leider! leider!! verreist war. Nur seine kleine Frau (Bernerin) gesehen. Dann in das Musée Rath, Gemälde und Statuen-Sammlung (schöne Calamesche und Didaysche Landschaften). Mittag wieder bei Claparèdes gegessen. Eigenthümliche Gebräuche beim Essen und Trinken. Äußerst freundliche und umgängliche Leute. Um 1 Uhr stieg ich mit Edouard auf den Grand Salève, den großen Kalksteinberg, ganz ähnlich dem Unterberg, im Süden von Genf.

Leider die ferneren Berge alle umwölkt und ganz benebelt. Nur der Vordergrund sehr schön. Äußerst fruchtbare reiche Umgebung des Sees. Môle. Arve und ihre Mündung in die Rhone. Douaniers. Monnetiers. Petit Saleve. Abends bei Claparède’s zweitem Schwager, Banquier, sehr gebildeter Mann.||

Heute Abend kam ich also (11/9) hier um 7 Uhr an. Wir fuhren früh um 6 mit dem Dampfboot aus Genf. Der See hatte zwar keine Wellen, keinen Regen und Sturm, wie neulich, wo ich während der Fahrt nicht einmal das Ufer sah. Dafür blieben aber die schönen Bergketten den ganzen Tag in dichten Nebel gehüllt, der uns nur den Anblick der nächsten Uferstriche erlaubte, die nichts Ungewöhnliches darboten, sehr reiches fruchtbares Wiesen-Garten und Acker-Land, auch Weinberge, mit zahlreichen Villen und kleinen Landgütern. Um 9 Uhr stiegen wir in Lausanne aus, besahen den wegen seiner edlen, großartigen Einfachheit sehr schönen Dom, die sehr schönen Pflanzenabdrücke (Populus-Blätter, aber auch Palmen) c sowie die Anthracotheriumzähne aus der Waadtländer Molasse (im Musée Cantonal), stiegen lange in der alten, durch und durch hügligen Stadt herum, und dann auf die weltberühmte Aussicht „le Signal“ von der wir aber wegen des alle Berge bis zum Fuß einhüllenden Nebels fast gar Nichts hatten. Auch Militärexercitien der Milice Vaudoise sahen wir.||

Um 5 Uhr fuhren wir aus Lausanne bei Nebel und Regen hieher (nämlich ich und Claparéde, welcher hier Koelliker kennen lernen wollte). Zu unserm größten Leidwesen fanden wir aber nun von Koelliker keine Spur, leider aber eine telegraphische Depesche von heut Mittag, daß er wegen Krankheit seiner Frau gar nicht hieher kommen würde, sondern am 14/9 über den Sankt Gotthardt gehen würde, also die Tour, die ich, wenn Kölliker nicht hier hätte abgeholt sein wollen, für mich gewählt haben würde. Die ganze große Reise durch die westliche Schweiz ist also umsonst und ich hätte mit großer Ersparniß von Zeit und Geld direct über den Gotthardt reisen können. Doch das ist nun nicht zu ändern. Über den großen Bernhardt kann ich auch nicht, wegen meines Gepäcks, und so bin ich gezwungen, heute durch das langweilige Rhonethal nach Brieg, und morgen über den Simplon zu fahren, um übermorgen in Arona und Turin zu sein. Von da werde ich euch das nähere schreiben. Eure Briefe bitte ich vorläufig poste restante Nizza zu schicken. Mein Gepäck aus Würzburg ist hoffentlich glücklich angekommen: 2 Koffer (ein flacher und ein hoher) und 3 ziemlich gleich große Kisten.

Herzlichste Grüße.

Euer Ernst.

[Beilage: Reisetagebuch 6. September]

Samstag 6/9 war ich in aller Früh schon wieder auf dem Heidelberger Schloß. Es war ein herrlicher Herbstmorgen, die dichten Nebel im fernen Rheinthal ballten sich immer mehr und mehr zusammen und über ihnen traten die blauen Gipfel der Pfälzer und Elsässergebirge immer deutlicher hervor. Der gegenüberliegende Odenwald mit seinem dunkelgrünen Abhängen wurde prächtig von der Sonne beschienen, die sich im Neckar spiegelte. Im Vordergrund des herrlichen Gemäldes funkelten alle Gräser und Kräuter von perlenden Thautropfen und mitten in dem herrlichen Grün prangte die stolze Ruine mit ihren Thürmen und Façaden, Spitzbogen und Säulengängen. Da ist alles so überaus herrlich, daß man gar nicht weiß, wo man zuerst mit Bewundern anfangen soll. Besonders an den Epheugewinden, die ich nie sonst irgendwo in ähnlicher Üppigkeit gesehen habe, konnte ich mich gar nicht satt sehen. Ganz wie die tropischen Lianen umschlingen die mehrere Zoll dicken Schmarotzerstämme, vielfach gespalten, die schlank aufstrebenden nackten Stämme der Birken, Pappeln, Ulmen, Fichten, Lärchen und einer Menge exotischer Bäume, die ziemlich zahlreich vertreten sind, namentlich die mit zart gefiederten Blättern geschmückten Akacien, Gleditschien, Koelreuterien, viele verschiedenen Nadelhölzer, Tulpenbäume etc.|| Kaum kann es wohl ein poetischeres Vegetationsbild geben, als so einen herrlichen alten ausgewachsenen Waldbaum, dessen nackter säulengleicher Stamm von dem reichen Blätterschmuck eines üppigen Epheugewändes ringsum völlig bekleidet und verdeckt wird, während darüber die eigene Krone in einem ganz anderen Grün prangt. Mit dem Epheu wetteiferte in dem dichteren Gebüsch, namentlich am gesprengten Thurm etc die vielverschlungene Waldrebe und an den alten Mauern kletterte das reizende feine Löwenmäulchen der Ruinen herab (Veronica Cymbalaria).

– Vormittags 9½ Uhr setzte ich mich wieder auf die Eisenbahn, um heute noch nach Basel zu fahren. Die Bahn durchschneidet die Badische Ebene immer ungefähr in der Mitte, so daß man weder dem Rhein noch dem Schwarzwald sehr nahe kommt und von beiden, mit Ausnahme der letzten Strecke wenig sieht. Im Ganzen ist die Gegend, namentlich anfangs, sehr einförmig, obwohl ganz hübsch, meist sehr fruchtbares Wiesen, seltener Acker-land, von zahlreichen Obstbäumen durchsetzt, hie und da auch Weinberge die aber meistens dem Gebirge näher anliegen. Da die Wägen III Classe hier noch ganz offen sind, so kann man sich ganz frei überall umschauen, was bei dem schönen Wetter sehr angenehm war.

Je weniger Besonders übrigens die Gegend darbot, desto mehr war meine Reisegesellschaft interessant, obwohl sich nicht d, wie am Tag vorher, der König von Griechenland, ein häßlicher, eitler Narr, dabei befand.|| Vor allem verschaffte mir mein Vis-à-vis die angenehmste Unterhaltung, ein wunderhübsches und äußerst liebenswürdiges Mädchen, mit dem ich mich bis Diedlingen, wo sie e leider schon ausstieg (ihre Eltern haben dort in der Nähe ein Gut) außerordentlich gut unterhielt. Wenn man so einen ganzen Sommer gar kein hübsches Gesicht gesehen hat, ist so eine englische Erscheinung eine wahre Wohlthat, und verleiht der in Alltagserscheinungen verkümmerten Seele einen ästhetischen Schwung, den namentlich ein Anatom sehr gut brauchen kann.

Die sehr liebliche und zarte Schönheit wurde dadurch noch bedeutend gehoben, daß ihr mehrere eher häßliche als schöne, mindestens sehr derbe und grob bäuerliche Schönheiten zur Folie dienten, und um den Contrast noch zu erhöhen, fast hinter ihr ein wahres Muster von Häßlichkeit, eine alte Hexe mit seniler Osteomalacie, die eher einer Harpyie als einer Dame glich. Namentlich zu vergleichenden Studien über Gesichtsmuskeln waren die beiden Köpfe vortrefflich geeignet, dort bei meinem Schönheitsideal die alleganteste regulärste Muskulatur, von einer äußerst zarten, mit dem feinsten Teint geschmückten Haut ganz glatt und gleichmäßig bedeckt. Nur am Kinn war der Musculus quadratus mentis jederseits stärker entwickelt, dagegen der Musculus triangularis m. sehr schwach, so daß zwischen beiden erstern ein allerliebstes Grübchen am Kinn übrig blieb, dazu nun die schönsten blauen Augen,|| das lange blonde Haar in reiche Zöpfe aufgeflochten, die stattliche schlanke Statur – es war so ein Bild, wie Göthes Dorothea in „Hermann und Dorothea“. Nahm man nun dagegen die alte Hexe hinter ihr, so hätte man in der That glauben sollen, daß beide Exemplare nimmermehr bloße Altersverschiedenheiten der einen Species: Homo sapiens – sein könnten. Trockne, schuppige, dürre Haut, in groben Falten verschiedentlich über das stark knorrige Gesicht mit atrophischer Muskulatur hinweg gehängt, chinesische Schweinsaugen, Mund von einem Ohr zum andern ausgedehnt, aus der Mitte des Unterkiefers ein vereinsamter langer Schneidezahn pallisadenartig wie ein Zaunpfahl nach oben ragend, vereinzelte Haarbüschel ohne Rang und Ordnung umherflatternd – kurz ein wahres Medusenhaupt. Dazu hatte die Person, außer zahlreichen Rippeninfractationen, durch die ihr osteomalacischer Thorax ganz in sich zusammengesunken war, eine so fabelhafte Einschnürung über der Nasenwurzel, daß ich mit Sicherheit auf eine vorzeitige (cretinenartige) Synostose des Grund- und Keilbeins an der Schädelbasis schließen zu können glaubte und ihren Schädel gar zu gern an Virchow, der eben jetzt darüber sehr interessante vergleichende Beobachtungen macht, geschickt hätte.

a korr. aus Reisebuch; b mit Einfügungszeichen eingef.: 5/9; c gestr.: aus; d gestr. der K; e gestr.: scho

 

Letter metadata

Verfasser
Datierung
14.09.1856
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 43967
ID
43967