Ernst Haeckel an Lilly Böttger, Jena, 27. Juni 1919
Jena 27. Juni 1919.
Sehr geehrtes Fräulein!
Da Sie sich selbst in Ihrem Schreiben vom 22.6. als eine „Sucherin der Wahrheit“ bezeichnen und da Sie meine „Welträtsel“ u. a. gelesen haben, kann ich Ihnen nur die Versicherung geben, dass die auf letztere gegründete monistische Weltanschauung sicher auf Wahrheit beruht, insofern sie dena Erfahrungen der vernünftigen Natur-Erkenntnis entspricht. In den 8 Tabellen, welche meiner Schrift „Gott-Natur“ (1904) angehängt sind, finden Sie die Hauptsätze dieser monistischen Philosophie kurz zusammengefasst, in klarem Gegensatze zu der traditionellen dualistischen Weltanschauung und der idealistischen Dichtung. Die 3 wichtigsten Ideale der letzteren:
I. die persönliche Unsterblichkeit des Menschen,
II. der persönliche Gott (menschenähnlich gedacht)
III. die Willensfreiheit (Basis der Moral)
sind romantische Produkte der Phantasie. Einen höheren Zweck des Lebens“ wie ihn die Teleologie beansprucht, kennt die Wissenschaft nicht. Alles Individuelle in der Welt ist eine vorübergehende zeitliche Erscheinung: „Ewiges Werden und Vergehen“! – Freilich ist die Hoffnung auf eine bessere „Jenseits“ und ein glückliches „Ewiges Leben“ eine tröstliche und beruhigende Vorstellung, besonders in der entsetzlichen Gegenwart, wo das „Diesseits“ im menschlichen Kampf ums Dasein ganz besonders trostlos und widerwärtig erscheint. Aber die unhaltbaren Trostworte, mit denen Max Kröning, Bruno Wille, Dennert u. a. uns ein solches „Ewiges Leben“ in Aussicht stellen, entbehren leider jeder Basis.
Die Abstammung des Menschen von einer Reihe höherer Wir-||beltiere, wie ich sie schon 1868 in der „Natürlichen Schöpfungsgeschichte“, – eingehender in der „Anthropogenie“ (1874) geschildert habe, ist heute eine wissenschaftlich begründete Tatsache. Alles Andere ergibt sich daraus von selbst.
Hochachtungsvoll grüssend
Ihr
gez. Ernst Haeckel.
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