Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Bartholomäus von Carneri, Jena, 18. September 1896

Jena 18.9.1896.

Lieber hochverehrter Freund!

Der Gruß, den Ihnen am 3. September das glücklich vereinte Kleeblatt vom Mönchsberg – unter den Klängen der Festmusik des oesterreichischen Katholiken Tages!! – sandte, hat Ihnen gezeigt, wie herzlich wir dort Ihrer gedacht haben! Wie danke ich Ihnen, daß Sie mir diesen hohen Lebensgenuß verschafft haben, die persönliche Bekanntschaft der genialen Dichterin Eugenie delle Grazie, in deren reizvollen Dichtungen ich seit einigen Jahren – ebenfalls durch Ihre Güte – die Grundgedanken unserer modernen naturgemäßen Weltanschauung so schön verkörpert finde! ||

Auch Ihr Erzieher und Beschützer, der treffliche Professor Müllner, hat mir sehr gut gefallen; und wir haben in den zwei Tagen unseres Salzburger Zusammenseins über viele der wichtigsten Fragen (und auch Personen) uns ausgesprochen, wie ich hoffe, zu beiderseitiger wahrer Befriedigung! Daß dabei meine „Natürliche Schöpfungsgeschichte“ eine kleine Causal-Rolle spielte, hat mich besonders stolz u. glücklich gemacht! – „Zwei glückliche Tage“ hatte mir am 3. September morgens der Salzburger Theater-Zettel (– freilich nur als Lustspiel von Schönthan!) – verheißen! Ihre beiden Wiener Freunde – mehr als „Schönthan“ – haben die Verheißung zur vollen Wahrheit gemacht. || Ihnen selbst möchten in diesen „2 glücklichen Tagen“ beständig die Ohren geklungen haben; so Viel haben wir Ihrer in herzlicher Liebe und Verehrung am 3. und 4. September gedacht! Am Freitag (4.9.) genossen wir einen unvergeßlichen sonnigen Morgen in dem herrlichen Park von Aigen, mit malerischem Blick auf den stolzen Watzmann – den ersten hohen Berg (von 9000'), den ich vor 41 Jahren bestiegen hatte. Dazu kommt noch, daß Salzburg die „Urheimath“ meines Geschlechts ist! Mein Urgroßvater (ein Bauer Haeckel) gehörte zu jenen Salzburgern, die wegen ihres protestantischen Glaubens vor (140?) Jahren aus Oesterreich vertrieben und von Friedrich dem Großen in Schlesien angesiedelt wurden. || Wäre das nicht geschehen, existirte heute sicher keine „Natürliche Schöpfungsgeschichte“! (O historischer Causal-Nexus, O „sittliche Weltordnung“!!! –) – Auch im Übrigen hat mich meine 4wöchentliche Ferien-Reise nach Tyrol (Bludenz, Arlberg, Innsbruck) recht erfrischt; trotz vielen schlechten Wetters habe ich doch 16 Aquarell Skizzen heimgebracht. Zuletzt hatte ich noch 3 interessante Tage am Starnberger See, a in der Villa des Prof. Gabriel Max, in Ambach. Auch er ist ein Adept der „Natürlichen Schöpfungsgeschichte“ u. vom Mysticismus zum Darwinismus durch mich bekehrt. Zum Dank hat er schönes lebensgroßes Porträt in Öl von mir gemalt. –

Jetzt geht’s wieder scharf an die Arbeit. Meine arme Frau hat sich endlich wieder gebessert; auch der Tochter geht es wesentlich besser! ‒

Mit herzlichsten Grüßen an Sie und Ihre lieben Kinder

Ihr treuer

E. Haeckel

a gestr.: beim

 

Letter metadata

Verfasser
Datierung
18.09.1896
Entstehungsort
Entstehungsland
Zielort
Marburg an der Drau
Besitzende Institution
Wiener Stadt- und Landesbibliothek, NL Marie Eugenie Delle Grazie
Signatur
H.I.N. 90678
ID
41760