Engelmann, Theodor Wilhelm

Theodor Wilhelm Engelmann an Ernst Haeckel, Utrecht, 23. Juni 1879

Utrecht 23 Juni 79

Verehrthester Freund!

Da der Wunsch, Sie in Jena einmal wieder aufzusuchen, sich leider nicht erfüllen ließ, will ich Ihnen, wenn schon recht spät, schriftlich danken für die herzlichen Worte zum Tode meines Vaters. Wir haben alle viel, sehr viel mit ihm verloren, denn bis zuletzt blieb er das lebenweckende, für alle restlos thätige Haupt unseres Hauses, dessen segensreiches Wirken wir täglich || und überall fühlten. Ich fühle zudem mit, was wissenschaftlicherseits dieser Verlust bedeutet. Mein Vater durfte sich wirklich in idealem Sinne einen Förderer der Wissenschaft nennen; selbst als Verleger war er viel mehr als Geschäftsmann. Sie haben das gewiß selbst erfahren. Den Meinigen ist es seither leidlich ergangen. Mir selbst nur mäßig. Ich litt soviel an Migräne daß ich mehrere Monate nur müssen das Nothwendigste arbeiten konnte und im März sogar einige Wochen ganz ruhen mußte, wo ich mich dann in Wiesbaden || u. in den Taunusbergen erholte. Im August hoffe ich mit m. Frau in der Schweiz oder Tirol herum zu streichen. Wäre da keine Aussicht Ihnen irgendwo zu begegnen?

Ihre vielen interessanten Zusendungen habe ich leider nur mit diomedischen Gegengeschenken erwidern können. „Das Protistenreich“ (das ich übrigens schon besaß) ist eine sehr willkommene Zusammenstellung u. Uebersichta dieser neuen Welt des 19ten Jahrhunderts! Auf die Radiolarien der Challengerexpedition bin ich gespannt. Ich habe in letzter Zeit viel in niederen Protoplasmen gesteckt, || dabei u. a. eine heliozoenartige Süßwasserform gefunden die zuckende Protoplasmafäden (mit Körnchenströmung) besitzt. Die Fäden die sehr lang u. äußerst dünn sind, wenn das Geschöpf in Ruhe, zucken blitzschnell zu kurzen dicken Kegelchen zusammen wenn sie gereizt werden. Also ein direkter Uebergang von Protoplasma- zur Muskelbewegung! Gern möchte ich wissen ob Ihnen ein ähnlicher Fall aus eigner Beobachtung oder aus der Literatur bekannt ist. Ich habe weder in älteren noch in den neueren Arbeiten einen solchen Fall auffinden können. Sie würden mich mit einem Wort hierüber recht verbinden. – Augenblicklich sitze ich über Muskeln u. Nerven. Einen wichtigen Fortschritt glaube ich garantiren zu dürfen: Der Axencylinder verbindet sich direkt u. ausschließlich mit der isotropen Substanz, speziell der Zwischenscheibe. An der Berührungsstelle beider, u. zwar ausschließlich an dieser || findet die Erregung statt, die sich weiterhin nur durch Muskelleitung durch die Faser verbreitet. Der Erregungsvorgang von Seiten des Nerven, bezüglich der sogenannten Endplatte, kann demnach nur eine Molekularwirkung sein. An eine elektrische Entladung die von der Endplatte en masse und auf Distanz stattfinde – eine jetzt viel diskutirte u. beliebte Hypothese – kann hiernach nicht mehr gedacht werden. Auch morphologisch scheint mir eine Vergleichung der Nervenendplatten der Muskeln mit den elektrischen Platten der Fische durchaus unstatthaft zu sein! – Farbgesetzte Untersuchungen über die Contrak-||tion der quergestreiften Muskeln, speziell über die mikroskopischen Strukturveränderungen die dabei statthaben, befestigen mich immer mehr in der Ueberzeugung daß der Mechanismus der Contraktion, also unzweifelhaft aller thierischen u. verwandten pflanzlichen Bewegung, in einer Quellungserscheinung gelegen ist. Die doppelbrechenden Elemente nehmen bei der Reizung Wasser aus den isotropen Schichten auf u. streben in Folge davon (wie alle nicht kugligen doppelbrechenden organisirten Elementartheile, gleichviel ob lebend oder b todt, bei Quellung thun) mit großer Kraft der Kugelform zu. Hiermit wäre der Contrak-||tionsvorgang als mechanischer Akt physikalisch erklärt. Die weitere Frage ist nur, was ist die Ursache der Quellung? Diese kann wie ich glaube nur in einer Veränderung in der isotropen Substanz gesucht werden, u. zwar in der Wärme welche c bei der durch den Reiz in dieserd hervorgerufenen chemischen Spaltung erzeugt wird. Doch ist hier vielmehr hypothetisch als bei der obigene Erklärung des Mechanismus der Contraktion, welche keine einzige unbewiesenef Hilfsannahme erfordert. – Bei den z. Th. recht delikaten mikroskopischen Beobachtungen die bei vorstehender Untersuchung erforderlich waren, habe ich mit dem allergrößten Vortheil eine einfache Einrichtung benutzt, die indem sie Alles auffallende || Licht vom Objekt u. Auge abhält die Empfindlichkeit u. Schärfe der Beobachtung außerordentlich steigert u. zugleich das Auge vor aller Ermüdung bewahrt. Ich kann sie ihnen nicht genug, auch zum gewöhnlichen Mikroskopiren, empfehlen! Es ist ein einfacher etwa 70 ctm breiter, 65 hoher 35 ctm tiefer innen geschwärzter Pappkasten, der an der Seite des Beobachters offen (bezüglich durch zwei schwarze Vorhänge während der Beobachtung geschlossen), an der Fensterseite in der Mitte eineg große etwa 30 ctm weiteh Oeffnung hat in der ein Blechtrichter so befestigt ist, daß die etwa 6–8 ctm weite engere Oeffnung desselben gerade vor den Spiegel des Mikroskops zu liegen kommt, Licht somit nur auf diesen u. durch ihn von unten aufs Objekt fällt. Sie glauben nicht, wie wundervoll ruhig u. bequem sich’s in solchem halb- bezüglich ganz dunklen Raume arbeitet. Alle Collegeni die ihn bei mir sahen, haben sich ihn sofort machen lassen. Doch für heute genug! Seien Sie herzlichst gegrüßt von Ihrem treu ergebenen

Th. W. Engelmann.

a eingef.: u. Uebersicht; b gestr.: ihr; c gestr.: daselbst; d gestr.: ihr; eingef.: dieser; e eingef.: obigen; f korr. aus: unbeweisbare; g korr. aus: einen; h eingef.: etwa 30 ctm weite; i eingef.: Collegen

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
23.06.1879
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 4170
ID
4170