Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Charlotte und Carl Gottlob Haeckel, Ramsau, 25. August 1855 / Gastein, 27. August 1855

Ramsau Samstag 25/8 55 Abends!

Liebste Eltern!

Da ich so eben günstige Gelegenheit fand, das schon längst zum Abschicken präparirte erste Pflanzenpaket nach Berchtesgaden auf die Post zu schicken, so konnte ich den angefangnen Brief nicht vollenden, nicht einmal einen Schluß daran setzen und euch einen poste restante Ort für den nächsten Brief bestimmen. a

Gastein Montag

Am Schluß obiger Zeilen war ich von übergroßer Müdigkeit eingeschlafen. Ich hatte nämlich b vorgestern den Watzmann, die höchste bairische Alpenspitze 9058' erstiegen und zwar beim herrlichsten Wetter und mit dem größten Glück. Die meisten Pflanzen des Pakets stammen daher. Gestern früh, als ich von Ramsau fortgegangen, traf ich ganz unvermuthet meinen lieben alten Würzburger Freund Brummerstädt, mit welchem ich gestern den ganzen Tag marschirt bin, über Hirschbüchl (bairischer Grenzpaß) und Saalfelden nach Zell. (Auch das Pinzgau ist ganz herrlich und ganz eigenthümlich.) || Leider mußten wir uns heut schon wieder trennen, da er direct nach Tyrol ging. Ich ging von Zell am See über Taxenbach und Lend hierher, auch wieder 1 ganz herrliche Parthie, bei der ich zuerst aus den Kalkalpen ins Urgebirge kam. Wasserfälle, Seen und Kalkalpenlandschaften habe ich nun hinlänglich in der verschiedensten Art und Weise genossen.

Nun kommt die höhere Urgebirgswelt mit der Schneeregion an die Reihe. Morgen gehe ich nach Ober Vellach (über den Naßfelder Tauern die Centralkette überschreitend,) dann übermorgen nach Heiligenblut, wo ich einige Tage bleibe. Dann gehe ich nach Tyrol, ich weiß aber noch nicht, ob südlich von der Centralkette (über Lienz, durch das Fassathal nach Botzen und Meran) oder ob nördlich (durch das Oberpinzgau, über Kriml, Zillerthal und Ötzthal nach Meran). Jedenfalls bitte ich euch, den nächsten Brief poste restante nach Meran zu schicken und zwar so, daß er spätestens vor Mitte nächster Woche (vor dem 4/9) in Meran ist. Bis jetzt habe ich nur den einen Brief von euch in Salzburg erhalten. In Berchtesgaden war keiner. Mich bangt recht sehr nach Nachricht von euch, namentlich ob es Dir, liebste Mutter, noch immer nicht besser geht. Wie unendlich gerne hätte ich euch auch mit hier und wollte, ihr könntes alles mit genießen. Dann wär meine Freude vollkommen. ||

Das aus Berchtesgaden abgeschickte Paket werdet ihr indeßen wohl bekommen haben und Du, liebes Mütterchen, bist wohl so gut, die Pflanzen fertig zu trocknen, auch wenn sie schon zum Theil verschimmelt sein sollten. Spare kein Löschpapier. Die Moose kannst Du so an der Luft trocknen.

Zugleich habe ich mehrere überflüssige Stücke mitgeschickt und ferner für jeden 1 kleines Berchtesgadner Andenken, für Dich, liebe Mutter, die Salatlöffel, für Vater Serviettenband, Karl Falzbein, Mimmi Schweizerhütchen, für mich die Salzstufen, als Erinnerung an das Berchtesgadner Salzbergwerk, in das ich eingefahren bin.

Aus den 26 Alpenansichten könnt ihr euch doch einigermaßen eine Idee von meinen herrlichen Naturgenüssen machen und die Reise in Gedanken mitmachen. Übrigens bekommt sie mir körperlich und geistig ausgezeichnet gut. Ich bin so frisch und munter wie nie. Auch die Füße, sowohl Kniee, wie Sohlen, führen sich ganz vortrefflich auf.

Doch für heute genug. Ich muß rasch fort in Heiligenblut hoffe ich übermorgen 1 Brief von euch zu finden. Den nächsten also in 8 Tagen in Meran.

Mit den herzlichsten Grüßen, auch an die Freunde, euer treuer Ernst.

a gestr.: Dieses ist Heiligenblut, wohin ich jedenfalls bis Ende der nächsten Woche mich aufhalten werde (circa bis zum; b gestr.: sich; c gestr.: am

 

Letter metadata

Verfasser
Datierung
27.08.1855
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 41456
ID
41456